Nachruf auf Eric Spicer
Nachruf auf Eric Spicer / Imre (Emmrich) Spitzer 18.04.1926 - 14.06.2021
Uns hat die Nachricht erreicht, dass am Montag dieser Woche in Australien der ehemalige Leonberger KZ-Häftling Eric Spicer im Alter von 97 Jahren verstorben ist. Er hat uns ein einziges Mal im Juni 2006 in Leonberg besucht. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in einem Seniorenheim, sodass der Kontakt zu uns abgebrochen ist. Wir wussten nicht, dass er noch lebt.
Ich erinnere mich noch genau an die Begegnung mit Eric Spicer und insbesondere, wie es zum Kontakt mit ihm gekommen ist. In unserem Buch mit 25 Biografien ehemaliger Leonberger KZ-Häftlinge „Aus vielen Ländern Europas“, das in diesen Tagen in zweiter überarbeiteter Auflage nachgedruckt wurde, beschreibe ich das Erlebnis aus dem Jahr 2006 so:
„Am 12. März 2006 bekam ich ein E-Mail aus Wien von Roswitha Klingemann, der Schwester des bekannten österreichischen Schriftstellers Ernst Jandl, ein typisches Beispiel der Kontaktaufnahme mit einem ehemaligen Häftling des KZ-Außenlagers Leonberg. Sie wolle einem gewissen Eric Spicer eine Geburtstagsfreude machen, so erfuhr ich. Ob ich ihr eine Broschüre über das KZ Leonberg zukommen lassen könne. Sie habe Spicer bei einem Urlaubsaufenthalt in Australien am Strand kennen gelernt. Er hatte behauptet, im Lager Leonberg gewesen zu sein. Ich antwortete, eine Broschüre sei unterwegs. Wir hätten aber großes Interesse, mehr über Eric Spicer zu erfahren, weil wir den Kontakt zu allen noch lebenden ehemaligen Leonberger KZ-Häftlingen suchten. Noch am Abend desselben Tages bekam ich einen Telefonanruf aus Australien, in dem Eric Spicer in bewegenden Worten mir sein Lebensschicksal erzählte, wie wenn er schon seit ewig darauf gewartet hätte, dass ihn danach jemand befragte. Und doch war er überrascht, dass ein Leonberger Bürger nach so vielen Jahrzehnten an seiner Biographie interessiert sein könnte. Es folgte eine Einladung nach Leonberg. Anlässlich eines ohnehin geplanten Europaaufenthalts kam es zur mehrtägigen Begegnung im Juni 2006 mit dem 82-Jährigen. Spicer war auch bereit, einen Vormittag lang vor Schülerinnen und Schülern des Johannes-Kepler-Gymnasiums zu sprechen. Geradezu gerührt war Eric Spicer, als er an der Namenswand vor dem alten Engelbergtunnel seinen Namen Emmerich Spitzer entdeckt hatte, so sein Name bis zur Auswanderung nach Australien.“
Wer mehr über Eric Spicer wissen will, dem empfehle ich seine von mir verfasste Biografie in dem erwähnten Buch „Aus vielen Ländern Europas“.
Noch unter dem Geburtsnamen Emmerich Spitzer beteiligte sich der damals 20-jährige, ungarische Jude als Angehöriger der Jungsozilisten im Sommer 1944 in Budapest an einer Protestaktion gegen die deutsche Besatzungsmacht. Recht naiv pinselte er bei Nacht an Häuserwände die Parole „Tod den deutschen Besatzern“. Die Folge war seine Verhaftung und Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe von viereinhalb Jahren. Während der politischen Wirren des Aufstandes von Reichsverweser Horty gegen die Deutschen im Oktober 1944 wurde Emmerich Spitzer zusammen mit anderen Häftlingen von den deutschen Besatzern nach Deutschland und in das KZ Dachau verschleppt. Deutschland benötigte Arbeitskräfte. Emmerich wurde als Arbeitskraft der Firma Messerschmitt in Augsburg zur Verfügung gestellt und befand sich jetzt im Dachauer KZ-Außenlager Augsburg-Pfersee. Von dort kam er in einem Transport am 3. Dezember 1944 nach Leonberg und bekam die Natzweiler Häftlingsnummer 39465. An Typhus erkrankt wurde Emmerich Spitzer schon Ende März nach Dachau verlegt. Nach einem wilden Todesmarsch erlebte er in Ötztal / Tirol die Befreiung durch US-Soldaten. Anschließend wurde er im DP-Lager Feldafing am Starberger See aufgenommen. Dort fand er die Frau seines Lebens, Eva Kovacz. Sie stammte auch aus Ungarn. Die beiden fuhren mit einem Repatriierungszug in ihre Heimat, um nach ihren Vätern zu suchen. Beide waren jedoch nicht mehr am Leben. Als Vollwaisen kehrte das Paar nach Feldafing zurück und heiratete dort. Da die Frau erst 18 Jahre alt, also noch nicht volljährig war, fälschte sie ihr Geburtsdatum.
Was würde die Zukunft bringen? Von 1946 bis 1949 lebten Eva und Emmerich in Paris und schlugen sich notdürftig durch. Emmerich studierte Chemie. „Es war die glücklichste Zeit unseres Lebens“, sagte Eric Spicer in einem späteren Interview. 1949 folgte die Emigration nach Australien. Dort baute Eric Spicer, wie er jetzt hieß, sich eine Existenz auf. 1956 und 1957 wurde dem Ehepaar eine Tochter und ein Sohn geboren. Später kamen noch zwei Enkelkinder dazu. Die Ehefrau Eva ist freilich früh gestorben. Als wir Eric Spicer kennen gelernt haben, war er schon Witwer.
Eric Spicer ist nun einer der letzten aus der Schar der ehemaligen Häftlinge, die wir kennen gelernt haben und von dem wir jetzt Abschied nehmen müssen. Ein Glück, dass wir ihm begegnet sind. Ein Interview, das Eric Spicer 1995 gegeben hat, schloss er mit den Worten:
„Den jungen Menschen von heute möchte ich gerne sagen: Vergesst nie, was geschehen ist. Vergesst den Holocaust nie. Vergesst uns nicht und was wir durchgemacht haben! Denn Eure Erinnerung ist das Einzige, was uns am Leben erhält. Und Eure Erinnerung gibt dem einen Sinn, was wir durchgemacht haben.“
Eberhard Röhm
Hinweis: Das Buch „Aus vielen Ländern Europas“, in dem acht Autorinnen und Autoren 25 Biografien Leonberger KZ-Häftlinge beschreiben, ist in diesem Jahr in einer überarbeiteten Fassung in 2. Auflage (218 Seiten) erschienen und kann bei uns auf Rechnung (10 EUR + 2,50 EUR Versand) bezogen werden (info@kz-gedenkstaette-leonberg.de).