Nachruf auf Leo Finkelstein (1923-2011)

Ich habe einen Anruf aus Israel von Frau Shoshana Finkelstein bekommen, in dem sie mir mitgeteilt hat, dass ihr Mann, Leo Finkelstein, vor einigen Wochen verstorben ist. Die KZ-Gedenkstätteninitiative nimmt Anteil an der Trauer der Familie und gedenkt eines guten Freundes, mit dem wir mehr als ein Jahrzehnt herzlich verbunden waren.
Im Sommer 2000 bin ich im Rahmen unserer Geschichtswerkstatt eher zufällig auf Leo Finkelstein aufmerksam geworden. Beim Durchsuchen der Akten der Zentralen Ermittlungsstelle der Justizverwaltungen in Ludwigsburg stieß ich auf seinen Namen. Er war 1970 als Zeuge vernommen worden und wohnte damals in der Relenbergstraße in Stuttgart. Sollte er noch immer dort wohnen? Im Telefonbuch fand ich seinen Namen, jetzt in der Rotenwaldstraße wohnend. So kam es zum ersten Interview, das ich zusammen mit Volger Kucher mit dem Ehepaar Finkelstein in ihrer Stuttgarter Wohnung geführt habe.
Leo Finkelstein wurde am 30. Juni 1923 in Radom/Polen geboren. Sein Vater war Schlosser, er hatte noch zwei Schwestern. Die Eltern und Schwestern sind Opfer des Holocaust geworden. Er allein überlebte. Im März 1941 errichteten die Deutschen in Radom ein Ghetto, in die 30.000 Juden gepresst wurden. Zwei Jahre später wurde Leo Finkelstein in das Zwangsarbeitslager Wolanow in der Nähe von Radom verschleppt. Damit begann für ihn für die folgenden zwei Jahren eine Odyssee durch sieben Lager. Die Männer des Lagers Wolanow wurden zu Arbeiten in der dort angesiedelten Luftwaffenbasis eingesetzt. Von Juni 1943 bis Juli 1944 kam Leo Finkelstein in das etwa 50 km von Radom entfernte KZ-Zwangsarbeitslager Bliszyn, ein Außenlager des KZ Majdanek. Auch hier wurde er in der Rüstungsindustrie eingesetzt. Im Juli 1944 drohte ihm schließlich die Vernichtung in Auschwitz. Er wurde einem Transport mit 1614 Juden und 715 Jüdinnen zugeteilt, der am 31. Juli an der Rampe von Auschwitz-Birkenau ankam. Demselben Transport gehörten auch Avraham Ary und Samuel Pisar aus Bialystok an, spätere Leonberger KZ-Häftlinge, die sich aber nicht gegenseitig kannten. Leo Finkelstein bekam in Auschwitz die Nummer B 2188 in den Unterarm eintätowiert, die ihn ein Leben lang begleiten wird. Er gehörte zu den wenigen, die Auschwitz überlebt haben. Offensichtlich wurde er einem Kommando zugeteilt, in dem er zu zusätzlichen überlebenswichtigen Essensrationen kam. Im Gespräch mit uns erwähnte er einmal, dass der Hunger in Leonberg schlimmer als in Auschwitz war. Im November 1944, als angesichts der näher rückenden Front die Vergasungsanlagen und die Krematorien in Auschwitz-Birkenau schon nicht mehr in Betrieb waren, wurde Leo Finkelstein abermals weitertransportiert in das KZ Groß-Rosen. Von dort ging es am 25. Februar 1945 weiter zum KZ Flossenbürg in Bayern. Wenige Zeit später, wohl Anfang März 1945 kam er nach Leonberg. Hier kam es zur Wiederbegegnung mit seinem Jugendfreund und Klassenkameraden aus Radom, Bolek Urbas, mit dem er schon in Auschwitz zusammen gewesen war. Dieser warnte ihn, sich möglichst vor dem Arbeitseinsatz im Tunnel zu drücken, sondern sich krank zu stellen. Juden wären besonders den Schikanen bei der Arbeit ausgesetzt. So hat Leo Finkelstein während der kurzen Zeit seines Aufenthalts in Leonberg nie die Arbeit im Tunnel kennen gelernt. Es stand ihm aber noch der Todesmarsch in Richtung Bayern bevor. Dieses Erlebnis blieb ihm am stärksten in Erinnerung. Ausführlich hat er uns diese abenteuerliche letzte Reise vor der Befreiung geschildert. Mitte April 1945 wurden 2700 KZ-Häftlinge an die Messerschmitt-Standorte Kaufering und Mühldorf in Bayern transportiert. Leo Finkelstein kam in einem Güterzug, eng zusammengepresst, ohne Nahrung und Wasser, am 17. April in Mühldorf an. Während der Fahrt waren 30 Männer verstorben. In Mühldorf waren riesige unterirdische Fabrikanlagen für Messerschmitt im Bau, die aber nie in Betrieb gingen. Ende des Monats ging die irrwitzige Todesfahrt weiter. Wir kennen die Stationen. Am Abend des 25. April verließ ein Güterzug mit 60 bis 70 Waggons und 3600 Häftlingen, wieder eng zusammengepresst, den Bahnhof Mühldorf, wie der Lagerschreiber des KZ Mühldorf festgehalten hat. Die Fahrt ging, immer wieder durch Tieffliegerangriffe aufgehalten, in Richtung Süden über Dorfen, Markt Schwabing bis er am Morgen des 27. April im Bahnhof Poing wegen eines Tiefliegerangriffs zum Stehen kam. Es gab Verwundete und Tote. Die Lokomotive war zerstört. Der Zug musste geteilt werden. Zwei Zugpaare mit kleineren Loks setzten die Fahrt fort. Der vordere Teil mit etwa 1500 Häftlingen, unter denen sich die Leonberger Häftlinge Israel Bornstein, Moshe Neufeld und Leo Finkelstein befanden, bewegte sich an München vorbei über Wolfratshausen, Bichl bis nach Seeshaupt am Starnberger See. Dort versorgte das Deutsche Rote Kreuz die immer noch gefangen gehaltenen Häftlinge mit einer warmen Suppe. Die Toten wurden aus den Waggons geborgen. Am 29. April rollte der Zug weiter in Richtung Tutzing und blieb einen Kilometer vor der Lazarettstadt auf freiem Feld stehen. Die Front rückte näher. Die SS-Bewacher koppelten die Lok ab und flohen. Die Nacht über blieben die Häftlinge in den geschlossenen Waggons in Eiseskälte sich selbst überlassen. Am Morgen des 30. April kamen amerikanische Panzer und befreiten die noch Lebenden. Die völlig ausgehungerten und äußerlich verwahrlosten Gestalten ergossen sich über den Ort Tutzing. Leo Finkelstein erinnerte sich im Gespräch, dass er sich als erstes in eine Bäckerei begab und Brot verlangte. Als die Verkäuferin gewohnheitsmäßig um ein Entgelt bat, war er völlig verwirrt. Dass man für Essen und Waren etwas bezahlen musste, war ihm in Jahren der KZ-Haft völlig abhanden gekommen. Ein Teil der befreiten KZ-Häftlinge wurden in der Hitlerjugend-Führerschule im benachbarten Feldafing untergebracht und ärztlich versorgt. Leo Finkelstein begab sich, so bald er konnte, zu einem Verwandten nach Stuttgart. Er hatte in der für verfolgte Juden frei gemachten Reinsburgstraße eine Wohnung gefunden. Seit 1945 wohnte Leo Finkelstein darum in Stuttgart, gründete im Lauf der Jahre eine Familie und eine Firma, die mit Süßwaren handelte. Vor einigen Jahren gab er seinen Wohnsitz in Deutschland auf und begab sich mit seiner Frau zu seinen in Israel wohnenden Kindern, Enkeln und Urenkeln.
Zum letzten Mal sind wir uns anlässlich der Einweihung des Dokumentationszentrums im alten Engelbergtunnel im Juni 2008 begegnet. Er und seine Frau Shoshana – auch sie eine Überlebende des Holocaust - haben vor mehreren Schulklassen über ihre Lebensgeschichten bewegend erzählt.
Jetzt ist Leo Finkelstein in Haifa verstorben.

Eberhard Röhm

PS. Frau Shoshana Finkelstein bittet alle, die vom Gespräch ihres Mannes Film- oder Tonaufnahmen gemacht haben, ihr eine Kopie für eine Enkelin zur Verfügung zu stellen. Die Enkelin möchte eine Biographie ihres Großvaters verfassen. Beide sprechen deutsch.


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