Nachruf auf Pjotr Wassiljewitsch Kudrjaschow (26. Dezember 1926 - 26. Juni 2011)
Am Sonntag, 26. Juni 2011, in der Frühe ist Pjotr Wassiljewitsch Kudrjaschow in seiner Hei-mat Nikolajew/Ukraine gestorben, erlegen einem schweren Krebsleiden. Zwei Wochen zuvor hat er noch mit schwacher Stimme mir am Telefon die letzten Grüße an die Freunde der KZ-Gedenkstätteninitiative ausgerichtet. Uns beiden war klar, dass es wohl das letzte Gespräch zwischen uns sein wird. Wir konnten auf eine mehr als 15-jährige Freundschaft zurückblicken. Kein Zwangsarbeiter, der 1944/45 nach Leonberg verschleppt wurde, hat Leonberg da-nach so häufig wieder besucht, bei Pjotr Kudrjaschow waren es mehr als ein Dutzend Mal, nicht zuletzt dank der freundschaftlichen Verbundenheit mit unserem Vereinsmitglied Ursula Beutelspacher. Sie hat in großer Treue die Verbindung nach Nikolajew aufrecht erhalten. Von keinem Deportierten kennen wir die Lebensgeschichte so genau wie von „Pjotr“. Vor einer Vielzahl von Leonberger Schülern hat er, der immer fleißiger deutsch lernte, leidenschaftlich über das eine Jahr in Leonberg, von Mai 1944 bis April 1945, berichtet und so zur Verständigung zwischen Ost und West im weitesten Sinn beigetragen. Pjotr Kudrjaschow war kein KZ-Häftling, sondern einer der nicht wenigen OST-Zwangsarbeiter, die unter der Gewalt der „Organisation Todt“ zum Bau der Messerschmittfabrik im Engelbergtunnel oder – wie in seinem Fall – zum Bau einer Wasserleitung vom Glemstal bis zum Engelberg in unserer Stadt eingesetzt wurden.
Pjotr Kudrjaschow wurde im Dezember 1926 in der Ukraine geboren. Im August 1943 wurde er mit seinem ganzen Jahrgang in Güterwagen nach Deutschland deportiert. Ein Entrinnen gab es nicht. Die „slawischen Untermenschen“ galten den Deutschen als willkommene Arbeitskraftreserve im totalen Krieg. Pjotr Kudrjaschow war sechzehneinhalb Jahre alt. Jetzt begann für ihn das Leben in Männerbaracken und Drei-Etagen-Betten. Sein Jahrgang hatte zunächst neun Monate lang im bombenzerstörten Wuppertal die Trümmer dieser Stadt zu beseitigen. Im Mai 1944 wurde er nach Leonberg verlegt. Sein neues „Zuhause“ waren Baracken zwischen den Autobahntrassen vor dem Engelbergtunnel. Die „OST“-Zwangsarbeiter – erkenntlich an einem blauen Stofffleck mit den eingestickten weißen Buchstaben „OST“ – waren zwar bewacht, hatten jedoch, im Gegensatz zu KZ-Häftlingen, gelegentlich am Sonntag Freigang. Und so kam es zur Begegnung mit Elisabeth Dommes und ihrer Familie auf der Gerlinger Höhe. Pjotr Kudrjaschow verdingte sich etliche Male mit Gartenarbeiten und erhielt dafür eine warme Mahlzeit. Diese warmherzige Frau, deren Mann im Krieg war, hatte keine Angst vor einem Ukrainer und Zwangsarbeiter. Sie war es auch, die nach der Perestroika den Kontakt mit Pjotr suchte; und umgekehrt suchte auch er auf verschlungenen Wegen den Kontakt zu seiner zweiten „Mama“. So kam es bereits im Jahr 1991 zu einem ersten Wiedersehen der beiden in Gerlingen und 1995 zur ersten Begegnung mit uns in Leonberg.
Dabei erfuhren wir an einem konkreten Schicksal, wie ganz anders das Leben der aus der Sowjetunion Stammenden nach der Befreiung 1945 verlief im Vergleich zu den Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen aus westlichen Ländern. Statt in seine Heimat und zu seiner Familie heimkehren zu können, wurde Pjotr Kurdjaschow für fünf Jahre in die Sowjetarmee gesteckt. Er wurde einem Sonderkommando der Besatzungsmacht in der deutschen „Ostzone“ zugeteilt und war an der Demontage von Fabriken in Ostdeutschland beteiligt. Im April 1950 kam er endlich nach Hause. Er studierte in Kiew Medizin und begann 1959 als Arzt in einer Klinik in Nikolajew auf dem speziellen Gebiet der Erforschung und Behandlung ansteckender Krankheiten. Bald heiratete er seine Frau Musa und sie gründeten eine Familie. Sie haben drei Kinder und vier Enkelkinder.
Da wir Pjotr Kudrjaschow schon sehr früh, noch vor Gründung der Gedenkstätteninitiative, kennen gelernt hatten, fand sein erster offizieller Besuch in Leonberg anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Samariterstifts und der Errichtung des Gedenksteins auf dem ehemaligen Appellplatz des „Neuen Lagers“ im Juni 1998 statt. Es folgte im Oktober 1999 eine Einladung durch die Stadt Leonberg mit einem eindrucksvollen öffentlichen Gespräch im Atrium des Albert-Schweitzer-Gymnasiums. Bei beiden Veranstaltungen war auch der ehemalige KZ-Häftling Claude Brignon zugegen. Wie selbstverständlich nahm „Pjotr“ dann bei allen größeren Ereignissen der inzwischen gegründeten KZ-Gedenkstätteninitiative teil: Bei der Vorstellung des KZ-Buches und der Einweihung des „Wegs der Erinnerung“ im Oktober 2001, bei der Errichtung der Namenswand am 8. Mai 2005 und bei der Eröffnung des Doku-mentationszentrums im alten Engelbergtunnel im Juni 2008. Zwei Mal ermöglichten Bürger der Stadt durch eine Spendenaktion eine Augenoperation für Pjotr Kudrjaschow. Es handelte sich bei ihm zum Teil um Folgeschäden von Misshandlungen, die er beim Aufenthalt in Leonberg erfahren hatte.
Es gibt bleibende Erinnerungen an ihn: Im Frühsommer 2005 entsprach er einer Bitte von uns, sein Leben aufzuschreiben. Daraus ist die von der Initiative herausgegebene Autobiographie „Unterwegs zwischen Nikolajew und Leonberg“ in deutscher Übersetzung entstanden. In einer Vitrine im Gedenkstättenraum im Samariterstift wird sein originaler „OST“-Stofffleck aufbewahrt. Im KZ-Informationsraum des Stadtmuseums gehört er zu einer der dort exemplarisch vorgestellten Zwangsarbeiterbiographien. Und vor allem: Sein Name steht an der Na-menswand vor dem alten Engelbergtunnel.
Eberhard Röhm
Die Broschüre Pjotr Kudrjaschow: Unterwegs zwischen Nikolajew und Leonberg. Kurze Autobiographie eines ehemaligen „Ostarbeiters“, 2007, 74 Seiten, ist bei der KZ-Gedenkstätteninitiative gegen eine Spende zu beziehen.