Nachruf auf Riccardo Goruppi

Uns hat die Nachricht erreicht, dass am Mittwoch vor Ostern, 31. März 2021, unser Freund Riccardo Goruppi nach einem Herzinfarkt im Alter von 94 Jahren in seiner Heimat Opicina bei Triest verstorben ist. Mit ihm verliert die KZ-Gedenkstätteninitiative den Zweitletzten der noch Lebenden aus der Schar ehemaliger KZ-Häftlinge, die wir insgesamt ausfindig machen konnten. Mit keinem Ehemaligen hatten wir über zwanzig Jahre hinweg so intensiven und regelmäßigen Kontakt wie mit Riccardo Goruppi. Wir trauern um einen Menschen, der fast jedes Jahr uns besucht hat, immer auch mit seiner Frau Eda und bald auch mit dem Sohn Roberto und dessen Frau Damiana wie zuletzt auch mit den beiden Enkelinnen Alenka und Irina. Riccardo Goruppi hat in unserer Stadt Spuren hinterlassen, nicht nur bei unseren Vereinsmitgliedern, darüber hinaus auch bei Schülern, vor denen er seine Lebensgeschichte erzählt hat. Ja, jeder Besucher einer unserer Führungen auf dem „Weg der Erinnerung“ kennt den Namen Riccardo Goruppi. Wir Lotsen erzählen regelmäßig am Sammelgrab auf dem Friedhof Seestraße seine Lebensgeschichte. Riccardo Goruppi kam am 31.Dezember 1944 zusammen mit seinem Vater Edoardo in das KZ Leonberg. Dieser starb am 20. Januar 1945 in Leonberg an den Folgen von Misshandlungen und Entbehrungen und liegt in Leonberg begraben.

Bereits vor 20 Jahren - während der Arbeit der KZ-Geschichtswerkstatt - haben wir RiccardoGoruppi kennen gelernt. Ingrid Bauz und Joachim Baur haben zusammen mit dem Übersetzer Dieter Hartmann am 30. / 31. Juli 2000 Riccardo Goruppi, Giuseppe Zorzin, Aldo Gregorin und Giuseppe Covacich in ihrer Heimat besucht und im Büro der ANED (Associazione nazionale ex deportati politici) und ANPI (Assozione nazionale dei partigiani italiani) in Ronchi die Legionari (Italien) ausführlich interviewt. Dabei erfuhren wir zum ersten Mal von dem besonderen Schicksal der Slowenen unter italienisch-faschistischer Herrschaft und ihrem Widerstand und Kampf für Eigenständigkeit und Menschenwürde als Grund für ihre Verhaftung sowie von ihrem Abtransport nach Deutschland.

Und wir erfuhren von den Strapazen der Häftlinge beim jeweils zwölfstündigen Arbeitseinsatz in der Messerschmitt-Fabrik im Leonberger Autobahntunnel. Riccardo Goruppi hatte sich als Siebzehnjähriger wie viele seiner Altersgenossen mehr oder weniger freiwillig der slowenischen Befreiungsfront angeschlossen. Er wurde einer Partisanen-Sprengkommando-Brigade zugeteilt. Als er am 25. November 1944 bei einer Razzia zu Hause zusammen mit seinem Vater Edoardo verhaftet wurde, stand er mit seinem Rufnamen Dinči Goruppi auf der Fahndungsliste der deutschen Besatzungsmacht. Vater und Sohn wurden in das Gefängnis Coroneo nach Triest gebracht. Am 8. Dezember kamen beide in einem viertägigen Transport in das KZ Dachau und von dort am 31. Dezember 1944 nach Leonberg.

Am 8. Juli 2001 war Riccardo Goruppi zum ersten Mal unser Gast in Leonberg zusammen mitsieben weiteren ehemaligen KZ-Häftlingen aus Italien, Frankreich und Norwegen. Dem folgteein zweiter Besuch von Riccardo Goruppi und seiner Frau Eda in Leonberg im Oktober 2001aus Anlass der Veröffentlichung des Buches „KZ und Zwangsarbeit in Leonberg“. Ab da verging kein besonderes Ereignis in der Geschichte der KZ-Gedenkstätteninitiative, an dem das Ehepaar Goruppi und bald auch die ganze Familie Goruppi Gäste in Leonberg waren, sodass dank unserer Übersetzer Cornelius Renkl und Irmtraud Klein, langjähriges Vorstandsmitglied, eine enge Freundschaft entstand. Wir denken an die Einweihung der Namenswand vor dem alten Engelbergtunnel 2005 sowie an die Einweihung der Dokumentationsstätte im Tunnel im Jahr 2008, aber auch an private Besuche, die meist zu Gesprächen mit Schülern in Leonberger Schulen führten.

So entstand schon 2004 der Film „La Lezione“ von Angelo Ferranti, in dem Riccardo Goruppi mit einem Gespräch mit Schülerinnen und Schülern des Italienisch-Kurses des Johannes-Kepler-Gymnasiums in Leonberg im Mittelpunkt steht. Schon beim ersten Besuch erfuhren wir von Riccardo Goruppi, dass er längst in früheren Jahren ohne weiteren Kontakt hier unsere Stadt regelmäßig besucht hatte, um auf dem Städtischen Friedhof Seestraße das Grab seines Vaters Edoardo Goruppi zu besuchen. Noch war das Grab damals anonym. Auch wir historisch Interessierten entdeckten erst im Zusammenhang mit der Geschichtswerkstatt, dass Riccardo Goruppi in einer privaten Aktion eine Marmortafel mit dem Namen seines in Leonberg verstorbenen Vaters auf das Grab gelegt hatte. Er war der Erste, der so dem Gedenken an seinen Vater auf diese Weise Ausdruck verlieh. Zur Beschämung der Leonberger folgten seiner Aktion in den folgenden Jahren noch andere ausländische Angehörige ehemaliger Häftlinge. Auch sie legten neben die Tafel für Edoardo Goruppi ebenfalls eine Gedenktafel mit dem Namen ihres Vaters oder Großvaters.

Erst im Mai 2015 wurden auf unsere Veranlassung hin am Sammelgrab auf dem Friedhof Seestraße Tafeln mit allen uns bekannten Namen der Verstorbenen aufgestellt. Umso mehr zu Tränen gerührt war Riccardo Goruppi – wir erinnern uns noch genau daran -, als er bei der zweiten Einladung nach Leonberg im Oktober 2001 entdeckte, dass die evangelische Blosenbergkirchengemeinde im Vorraum ihres Kirchengebäudes in einem künstlerisch ge-stalteten Schrein 1992 ein Gedenkbuch aufgelegt hat mit den Namen aller damals bekannten, in Leonberg verstorbenen KZ-Häftlinge. Auch der Name von Edoardo Goruppi findet sich darin. Am 16. April 2011 übergab der Enkel Roberto Goruppi zum Gedenken an seinen Opa ein von ihm selbst hergestelltes Kruzifix, das heute im Vorraum der Blosenbergkirche neben dem Gedenkbuch der Kirchengemeinde hängt.

Nach Auflösung des KZ-Außenlagers Leonberg Anfang April 1945 und der „Evakuierung“ der mehr als 3000 Häftlingen nach dem noch nicht besetzten Bayern, wurde Riccardo Goruppi in einem der „Todeszüge“ dorthin transportiert. Er war damals bereits an Typhus erkrankt und kann sich an Einzelheiten nicht mehr genau erinnern. Im schon erwähnten Interview vom 31. Juli 2000 erzählte Riccardo Goruppi uns auch vom Tag der persönlichen Befreiung durch US-Soldaten auf einer Todesfahrt in einem von Militär begleiteten Güterzug mit 3.500 Häftlingen vom KZ Kaufering in Bayern in Richtung Dachau. Der Zug wurde am 27. April 1945 um 3 Uhr in der Frühe von Tieffliegern beschossen und kam nur bis zum 12 km entfernten Schwabhausen. Wie der im Zug ebenfalls als Häftling befindliche jüdische Arzt Dr. Z. Grinberg in einem Bericht an den Jüdischen Weltkongress in Genf am 31. Mai 1945 berichtet, zog man aus den von Jagdbombern schwer beschädigten Waggons 136 Tote und 80 Schwerverwundete heraus. Riccardo Goruppi hätte auch unter den Toten sein können. Er überlebte tatsächlich. Im Interview 2000 erinnert er sich: „Die Schreie waren schrecklich. Das ist etwas, wovon man nicht sprechen kann. […] Am Morgen herrschte Stille, dass du Angst bekommst. Als wir uns aus unserem Versteck herausgewagt hatten, sahen wir ein Gewehr auf uns gerichtet. Es war ein Schwarzer, der nachsehen wollte, ob es in den Waggons noch etwas zum Mitnehmen gab. Wir haben mit ihm geweint, ohne zu wissen, wer er war.“ Der US-Soldat brachte den schwer kranken Riccardo Goruppi in seinem Armee-Lastwagen in das amerikanische Militärlazarett der Benediktinerabtei St. Ottilien im Kreis Landsberg. Dort konnte Riccardo drei Monate lang unter der ärztlichen Leitung von Dr. Grinberg bleiben, bis er allmählich so weit genesen war, dass er die Heimreise antreten konnte. Im Interview mit uns erinnerte er sich: „In St. Ottilien habe ich nach eineinhalb Monaten wieder begonnen, auf meinen Füßen zu laufen. In der ersten Zeit wusste ich nicht mehr, wer ich war, nicht mehr, wie ich heiße. Ich wiederholte nur meine Nummer, wenn sie mich fragten, wer ich bin. Mehr wusste ich nicht.“ Umso bewegender war es für uns, als er am 8. Mai 2005 bei der Einweihung der Namenswand sich an der gerade errichteten Wand vor seinen Namen stellte und sich fotografieren ließ. Jetzt hatte er symbolisch sichtbar seinen Namen zurück bekommen. Wir werden jetzt Riccardo nicht mehr in Leonberg begrüßen können. Er hinterließ uns jedoch als Vermächtnis sein im letzten Jahr in deutscher Übersetzung erschienene Autobiografie „Partisan und Deportierter“.

Unsere mitfühlenden Gedanken und unsere Anteilnahme gelten seiner Familie, dem Sohn, der Schwiegertochter und den beiden Enkelinnen, wenn sie ihren Vater und Großvater am kommenden Mittwoch, 7. April,  in Opicina zu Grabe tragen. Da wegen Corona niemand von uns an der Trauerfeier teilnehmen kann, werden Blumen auf seinem Grab stellvertretend ein Zeichen unserer Verbundenheit sein.

Eberhard Röhm

 


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