Ansprachen 8. Mai 2005 zur Einweihung der Namenswand am alten Tunnel

Am 8. Mai 2005 wurde das bisher größte Projekt der KZ-Gedenkstätteninitiative feierlich der Öffentlichkeit übergeben: Die Gedenkstätte am alten Tunnel.

Zu diesem Anlass redete Herr Montal als Vertreter der ehemaligen Häftlinge, Herr Landrat Maier, Herr Oberbürgermeister Schuler und die Vertreter der Gedenkstätteninitiative, Frau Stäbler und Herr Röhm. Soweit uns die Redemanuskripte vorlagen, finden Sie hier die Reden im Originalwortlaut.


Begrüßung durch die stellvertretende Vorsitzende der KZ-Gedenkstätteninitiative, Renate Stäbler

Liebe Freunde,
Wir danken Ihnen, dass Sie den - zum Teil sehr weiten - Weg auf sich genommen haben und gekommen sind um mit uns nach 60 Jahren endlich diese Stätte würdigen Gedenkens einzuweihen. Seien Sie uns mit Ihren Angehörigen herzlich willkommen!
Herzlich begrüßen wir auch den Bildhauer Johannes Kares, der diese Gedenkstätte mit großer Einfühlsamkeit entworfen und künstlerisch umgesetzt hat.

Voller Dankbarkeit begrüßen wir die privaten Spenderinnen und Spender sowie die Vertreter und Vertreterinnen all jener Institutionen, Firmen und Organisationen, die das große Werk ermöglicht haben.
Des weiteren begrüßen wir Sie, Herr Landrat Maier, und Sie, Herr Oberbürgermeister Schuler, und bedanken uns, dass Sie durch Ihre Anwesenheit die Bedeutung dieser Gedenkstätte unterstreichen. Unser Gruß und Dank gilt auch den Vertreterinnen und Vertretern der Stadt Leonberg, die uns bei der Umsetzung unseres Projekts behilflich waren.
Nicht zuletzt begrüßen wir die vielen Freundinnen und Freunde, die unsere Gedenkstätteninitiative seit 1999 begleitet und unterstützt haben.

Seien Sie uns alle herzlich willkommen an diesem 8. Mai 2005!


Rede des ehemaligen KZ-Häftlings Albert Montal

Herr Landrat, Herr Oberbürgermeister, Herr Röhm und alle Mitglieder Ihres Vereins, meine Damen und Herren, erinnern wir uns im Namen meiner deportierten Freunde.
Der 8.Mai 1945, das Kriegsende. Das Ende unseres Leidens. Vorbei die Sklaverei, die Qual, der Hunger, die Zwangsarbeit, der Tod Tag für Tag, die Vernichtung.
Die nationalsozialistische Diktatur hat kapituliert.
Heute folgen wir erneut Ihrer Einladung, weil Sie Ihre Arbeit für das Gedenken fortsetzen, eine Arbeit, die die Erinnerung für lange Zeit sichern wird an den verfluchten Tunnel und an eine Zeit, in der die Menschlichkeit verleugnet wurde.
Diese Wand ist ein Denkmal, das als Symbol für das Leiden und den Wahnsinn der Menschen steht. Für ein Volk von großer Kultur, das sich indoktrinieren ließ, bis es davon blind wurde.
Blind waren auch die benachbarten Demokratien, die angesichts des Erstarkens der totalitären Regimes nicht den Mut hatten, zu reagieren.
Heute wird aufgrund wissenschaftlicher Forschungen geschätzt, dass diese Tragödie der Todeslager in allen betroffenen Ländern ungefähr 10 Millionen Menschenleben gekostet hat.
Nach der Befreiung der Lager und der Entdeckung der Nazi-Verbrechen – es war ein Hohn auf die elementarsten Menschenrechte – veranlasste 1945 die Staatengemeinschaft zur Gründung der Vereinten Nationen. 1948 verabschiedete diese Organisation die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
Wir alle sind uns bewusst, dass diese Erklärung fast überall auf der Welt verletzt wird, aber die Schuldigen können sich nicht mehr auf Straffreiheit verlassen, denn nach den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wurde 1946 [Verschreibung im Original: 1993] ein Internationaler Gerichtshof gegründet.
Alle Diktatoren und ihre Komplizen sollen wissen, dass sie nicht einfach mehr tun können, was sie wollen.
Wir sind davon überzeugt, dass unsere Opfer, alle unsere Toten, uns verpflichten, den Weg des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Respekts vor dem Menschen zu gehen.
Das vereinte Europa muss das Licht sein, das die Demokratie, die Freiheit und die Verteidigung der Rechte jedes Menschen in die Welt trägt.
Dies war unser Kampf, die nach uns kommen, die jungen Generationen, haben die Pflicht, diese Aufgabe weiter zu verfolgen. Das ist unser Appell.


Rede des Landrats Bernhard Maier

Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerungen,
an das, was Menschen erleiden mussten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verant-wortlich zu stellen.
Die Einweihung dieser Gedenkstätte hat mit unserer gemeinsamen Verantwortung, mit dem Umgang mit unserer Geschichte zu tun.
Ich danke der Gedenkstätteninitiative Leonberg e.V. für ihre Initiative, ihr Engagement und für ihren unermüdlichen Einsatz um diese neue Gedenkstätte in Form einer Namenswand der Häftlinge des KZ Leonberg. Anonyme Schicksale bekommen auf diese Weise ein Gesicht.
Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die diesen Tag bewusst erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere für den geschenkten neuen Anfang.
Die meisten hatten geglaubt für eine gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen kennzeichneten die Gefühle der meisten.
Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle - gerade auch an dieser Stelle - gemeinsam zu sagen gilt. Der 8. Mai vor 60 Jahren war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Es gab viele Formen das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust heraus kam, beriefen sich all zu viele nichts gewusst oder auch nur geahnt zu haben. Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist wie Unschuld nicht kollektiv, sondern persönlich. Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen, es gibt Schuld, die sich Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben. Jeder, der die Zeit erlebt hat, frage sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung. Jeder, der sie nicht erlebt hat, frage sich, wie er möglicherweise beteiligt gewesen wäre.
Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren. Das jüdische Volk wie die Völker, deren Angehörige hier im Leonberger KZ waren, erinnert sich und wird sich immer erinnern. Wir suchen Versöhnung, gerade deshalb müssen wir verstehen, dass es Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann. Diese Gedenkstätte mag dazu beitragen.
Diese Gedenkstätte ist nicht nur Erinnerung, sie ist auch ein Zeichen in die Zukunft. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein weltweit geachteter Staat geworden. Wir leben seit 60 Jahren in Frieden und Freiheit und wir haben durch unsere Politik unter den freien Völkern des atlantischen Bündnisses und der europäischen Gemeinschaft dazu selbst einen großen Beitrag geleistet. Nie gab es auf deutschem Boden einen besseren Schutz der Freiheitsrechte des Bürgers als heute. Vielleicht auch weil die Erfahrungen, die sich aus der Zeit vor dem 8. Mai herleiten, wachgehalten werden und auch durch dieses Mahnmal in Erinnerung bleiben sollen.
Bei uns ist eine neue Generation in die politische Verantwortung hineingewachsen. Wir hier, die wir heute Verantwortung tragen, sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber wir sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird. Wir schulden der Jugend nicht die Erfüllung von Träumen, sondern Aufrichtigkeit.
Es ist unsere Verantwortung, dass die Vergangenheit stets als Mahnung in unserem Leben präsent bleibt. Auch deshalb erfüllt das Mahnmal eine wichtige Funktion.
Hitler hat stets damit gearbeitet Vorurteile, Feindschaften und Hass zu schüren und deshalb lautet die Bitte an die jungen Menschen, die die Zukunft noch vor sich haben, aus diesen Erfahrungen heraus: Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder Türken, gegen Alternative oder Konservative, gegen Schwarz oder Weiß. Lernen Sie miteinander zu leben, nicht gegeneinander, ehren wir die Freiheit, arbeiten wir für den Frieden, halten wir uns an das Recht, dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit, schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge. Möge dieses Mahnmal dazu beitragen.


Ansprache Dr. h.c. Eberhard Röhm, Vorsitzender der KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg e.V.

Liebe Freunde, die Ihr aus ganz Europa und aus Israel zu uns gefunden habt, um mit uns diesen Tag zu begehen;
all Ihr andern ehrenwerten Leute, die Ihr daran teilhaben könnt,
alsbald werden sechs Jugendliche die Namenswand enthüllen. Eine Gedenkwand, entworfen und geschaffen von Künstlerhand – ein Symbol zur Erinnerung an die finsterste Zeit in unserer Stadt, ein Appell für die Zukunft. Werden spätere Generationen verstehen, was wir bei diesem Mahnmal heute empfinden, was wir damit sagen wollen? Der Künstler Johannes Kares ist mit uns zusammen bewusst einen Weg der Reduktion gegangen. Ursprünglich war hier auf der Fläche vor dem Tunnel ein großes Rondell geplant. Daneben sollte ein symbolträchtiger, sieben Meter hoher Wachturm stehen, korrespondierend zum Tunnelportal. Angedacht war im Tunnel eine Informationsebene. Als wir gezwungen waren, von all dem Abstand zu nehmen, blieb am Ende eine einfache, wenn auch monumentale Namenswand, von der der Künstler selbst sagte, die Reduktion auf das Einfache war ein Gewinn.
Wird man einmal verstehen, was wir sagen wollten mit den 2908 Namen, eingeschnitten mit Laser in Sechsmillimeterstahl? Auf einer gesonderten Tafel gibt es sparsame Informationen in vier Sprachen: „Über 3000 Männer von den Nazis verschleppt“, ist da zu lesen; „der Willkür der SS ausgeliefert, zur Arbeit gezwungen, zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche; viele, viele starben.“ – Doch, was besagen solche Worte wirklich über das, was jene, deren Namen hier zu lesen sind, erlebt haben? Was sie ein Leben lang prägte, ja in unruhigen Nächten bis heute verfolgt? Es war unter uns umstritten, ob eine solche Belehrung notwendig ist. Peter Eisenmann, dessen Holocaust-Mahnmal in dieser Woche in Berlin eingeweiht wird, sagte unlängst:
„Es wäre falsch, wenn die Schrecken des Holocaust zu einem erkennbaren Symbol erstarren würden, zu etwas, das wir verstehen und in unsere Psyche einordnen können.“
Wie kann man das nicht Verstehbare verständlich darstellen wollen?
Wir von der Gedenkstätteninitiative hatten das Privileg, Euch, die Ihr vor 60 Jahren hierher als Häftlinge und Zwangsarbeiter verschleppt wurdet, kennen zu lernen. Seit sechs Jahren hatten wir die Chance, von Euch wenigstens ahnungsweise zu erfahren, was hier wirklich geschah, was mit Euch geschah. Uns wurde bewusst, welche Verantwortung wir haben, diese verdrängte Geschichte zu erforschen. Voller Eifer hatten wir zunächst nach historischen Fakten und recht abstrakt nach Tätern und Opfern gesucht und wir begegneten überraschenderweise – o Wunder – dann lebendigen Menschen, noch lebenden Zeitzeugen. Einige Mitglieder unserer Geschichtswerkstatt haben Euch in Eurem Zuhause besucht und haben im Jahr 2000 erste Kontakte geknüpft. 2001 sind auf unsere Einladung hin viele von Euch zum ersten Mal wieder hier an diesen Ort zurückgekehrt. Wir haben erlebt, wie schwer Euch die Erinnerung fiel, die wie ein Schatten Euch lebenslang begleitet. Eure Kinder und Enkel waren mit uns Zeugen, wie die Vergangenheit Euch hier im Tunnel voller Emotionen wieder eingeholt hat. Unser Film, Euer Film „Überlebende des KZ Leonberg“ ist ein Beleg dafür.
Und über all dem haben einige von uns Freundschaft mit Euch geschlossen. Gegenbesuche folgten nach Israel, nach Slowenien, nach Italien, nach Polen, nach Ungarn, nach Tschechien, nach Frankreich. Und nun seid Ihr heute wieder unsere Gäste mit Euren Kindern und Enkeln, für viele von uns ein Wiedersehens-Fest.
Über der neuen Gedenkstätte steht: „Namen statt Nummern“. Von Euch haben wir erfahren, was es heißt, zur Nummer gedemütigt zu werden. Zur Nummer degradiert, das heißt: in eine einheitliche, zerlumpte Zebrakleidung gesteckt zu werden, kahl geschoren wie ein Verbrecher. Das heißt abgestempelt zu sein als der Russe, als der NN-Häftling, als der Jude, als der Zigeuner, als der Italiener, obwohl Slowene, als der Politische, als der Sicherungsverwahrte, als der Zwangsarbeiter. Entpersönlicht, nur noch auszubeutende Arbeitskraft, der Willkür und Folter der Wachmänner und Kapos ausgeliefert, von Hunger und Krankheit gezeichnet, vom Tode bedroht. Eine Nummer, das heißt: stundenlangen Zählappellen unterworfen im Sommer wie im eiskalten Winter. Zur Nummer degradiert, das heißt: von der Leonberger Bevölkerung verächtlich, gleichgültig, entsetzt, mitleidig distanziert wahrgenommen oder auch bewusst nicht wahrgenommen zu werden. Eine Nummer wollten Eure Peiniger aus Euch machen, ohne Hoffnung, ohne alles, was einen Menschen zum Geschöpf und Mitmenschen macht.
Statt Eure Nummern haben wir Eure Namen auf diese Wand geschrieben. Es sind, wie ihr sehen werdet, transparente Namen. Bei der Herstellung wurden die einzelnen Buchstaben aus dem Stahl herausgeschnitten. Es sind Leerräume entstanden, voller Geheimnis. Der Wind wird in Zukunft durch die 3000 Namen wehen. Wir können einzelne Namen füllen mit unseren Gedanken, unserem Wissen, unserer Phantasie. Aus welchem Land kam dieser Mann? Was war seine Sprache? War er alt, war er jung? War der Träger dieses Namens ein Jude oder Christ, Sozialist oder Kommunist? Oder nichts von alledem? Was war seine Arbeit im Tunnel? Von woher kam er vor seiner Ankunft nach Leonberg? – Kam er von Natzweiler, von Dachau, von Sachsenhausen, von Groß Rosen, von Auschwitz? Wohin führte sein Weg? – Nach Vaihingen, nach Bergen-Belsen, in eines der Todeslager? Wurde er auf den Todesmarsch nach Bayern geschickt? Oder fand er den Tod hier in Leonberg und wurde in die Gruben auf dem Blosenberg geworfen? Wissen wir, ob er den Tag der Befreiung erlebt hat, wieder nach Hause kam? Gab es noch ein Zuhause für ihn?
Liebe Freunde, es wird eine langes, nicht abzuschließendes Gespräch mit diesen Namen werden, wenn wir die Hohlräume der Buchstaben mit unserem Wissen und mit Phantasie zu füllen versuchen, um nachzuempfinden, was vor 60 Jahren hier oben sich ereignet hat und was mit den Menschen, deren wir heute gedenken, geschah. Unser Versuch zu verstehen, wird Stückwerk bleiben, so wie wir in Jahren historischer Forschung und zugleich lebendiger Begegnung nur vorsichtige Annäherungen geschafft haben.
Und lasst mich dies auch noch sagen: Der Ort, an dem die Namenswand errichtet wurde, ist nicht zufällig gewählt. Es ist der authentische Ort schlechthin. Er liegt im Zentrum des „Wegs der Erinnerung“. Hierherauf zogen täglich die Häftlinge zur Arbeit. Dass das Mahnmal an diesem Ort errichtet wurde, hat auch für Leonberg einen historischen Rang. In dieser Woche wird – ich erwähnte es schon – fast zeitgleich in Berlin das Holocaust-Mahnmal errichtet, ein einmaliger symbolpolitischer Vorgang. Das hat es noch nie gegeben, dass ein Volk im Zentrum ihrer Hauptstadt keine Siegessäule, keinen Triumphbogen baut, sondern mit der Errichtung einer monumentalen Gedenkstätte am zentralen Ort sich zu ihrem größten geschichtlichen Verbrechen bekennt. Und so verhält es sich auch mit diesem Mahnmal inmitten unserer Stadt. Nach 60 Jahren ist eine lange Phase mühevoller, schmerzhafter Annäherung an die historische Wahrheit zu einem konkreten Abschluss gekommen.
Ebenso bewusst haben wir den heutigen Tag, den 8. Mai, als Tag der Einweihung gewählt, den Tag der Befreiung vor 60 Jahren. Wir sollten den Tag der Kapitulation auch als Deutsche – ob alt oder jung – bewusst als Tag der Befreiung sehen, als Tag der Befreiung vom Ungeist des Rassismus, vom Ungeist des Nationalismus, vom Ungeist der Menschheitsverbrechen und der Menschenrechtsverletzungen, als Absage an Krieg und Gewalt.
Und so übergeben wir diese Gedenkstätte der Öffentlichkeit mit dem Wunsch, dass sie für viele Generationen Anstoß zum Nachdenken sein wird und ein bleibendes Zeichen der Versöhnung.


Predigt am 8. Mai 2005 in der Blosenbergkirche in Leonberg – Pfarrer i.R. Dr. Eberhard Röhm

Ich lese als Text der Predigt einige Verse aus Psalm 77, Verse mit denen die Frommen im alten Israel sich vor Gott schwerer und guter Zeiten erinnerten.
Psalm 77
6 Ich gedenke der alten Zeiten, der vergangenen Jahre.
8 Wird denn der Herr auf ewig verstoßen und keine Gnade mehr erweisen?
9 Ist’s denn ganz und gar aus mit seiner Güte, und hat die Verheißung für immer ein Ende?
10 Hat Gott vergessen, gnädig zu sein, oder ist sein Erbarmen im Zorn verschlossen?
12 Darum denke ich an die Taten des Herrn, ja ich denke an deine frühen Wunder
15 Du bist der Gott, der Wunder tut, du hast deine Macht bewiesen unter den Völkern.
20 Dein Weg ging durch das Meer und dein Pfad durch große Wasser; doch niemand sah deine Spur.

Liebe Gemeinde, liebe Gäste aus nah und fern,
man hat mich um die Predigt in diesem Gedenkgottesdienst gebeten wohl als Zeitzeuge, der den 8. Mai vor 60 Jahren persönlich erlebt hat. Das Kriegsende, das Ende der Nazizeit, waren bewegende Tage. Jeder, der sie erlebt hat, hat sie auf ganz unterschiedliche Weise erlebt. Der eine war Soldat, irgendwo weit weg von zu Hause und in der Gefangenschaft. Der andere war mit seiner Familie auf der Flucht und erlebte so das schreckliche Ende einer verbrecherischen Wahnsinnszeit. In Abwandlung des bekannten Gedichts von Matthias Claudius möchte ich sagen:
„S’war Krieg! S’war Krieg! O Gottes Engel wehre
Und rede du darein!
S’war leider Krieg – und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein!
Vor 60 Jahren gab es in unserem Land kaum ein Haus, in dem nicht getrauert wurde über einen gefallenen oder vermissten Vater, einen Bruder, oder den Ehemann.
Hier in Leonberg waren inzwischen die Franzosen, Besatzungssoldaten, ein Schrecken für viele junge Frauen, die nachts in den Leonberger Kirchen sich verschanzten.
„Ich denke der alten Zeiten, der vergangenen Jahre.“ Sagt der Psalmist.
Auch ich denke persönlich zurück. Ich war weg von Zuhause, als Jugendlicher aus dem zerstörten Stuttgart weggegangen. Ich kam bei einem Bauern im Oberland unter, wo ich Arbeit und vor allem Brot fand. Mir ging es verhältnismäßig gut, wenn ich auch in Sorge um meine überall zerstreuten Familienangehörigen war. Ich besitze noch ein Tagebuch aus diesen Tagen. Da tritt mir der ganze Abgrund Goebbelscher Propagandasprache entgegen. Drei Stellen will ich vorlesen, weil sie auch mir erst richtig klar vor Augen führen, wie tief der Abgrund war, in dem wir Deutschen uns befanden, in dem ich persönlich mich damals befand.
Mit Datum 1. Mai 1945 finde ich den Eintrag:
„Um ein halb neun Uhr Abends bringt der Hamburger Sender die Nachricht, dass der Führer am Nachmittag in seinem Befehlsbunker in Berlin gefallen ist.“ Eine einzige Lüge, von mir immer noch nicht durchschaut. Da schwingt die Trauer eines kleinen Hitlerjungen mit über das bewunderte Staatsoberhaupt, dem wir uns blindlings verpflichtet hatten. Keine Spur von Widerstandsgeist.
Am 8. Mai, also heute genau vor 60 Jahren, schrieb ich in mein Tagebuch:
„Bedingungslose Kapitulation gegenüber den Alliierten. Wie arm ist doch unser Volk geworden und wie tapfer hat es sich geschlagen! Wie sehr ist es betrogen worden.“
Noch einmal Trauer darüber, dass wir als Deutsche den Krieg nicht gewonnen haben. Den letzten Satz bezog ich wohl auf die Verbündeten, die Italiener zum Beispiel, die uns im Stich gelassen hätten. Sie waren in meiner kindlichen Phantasie schuld, dass es trotz der Wunderwaffen nicht zum deutschen Endsieg kam. Ein Viertel Jahr zuvor hatte ich im Fach Deutsch mit voller Überzeugung einen Schüleraufsatz geschrieben: „Warum wir an den Endsieg glauben.“
Die ganze Ratlosigkeit und Verzweiflung, die mich in den folgenden Monaten beherrscht hatte, kommt im Eintrag vom 8. August 1945 zum Ausdruck: „Immer wieder überfällt mich die Frage und Sorge der zukünftigen Berufswahl. Sicher werden wir einer Arbeitslosenzeit entgegen gehen. Für uns Jungen, die wir keinen rechten Schulabschluss haben, wird es schwer sein, vorwärts zu kommen.“
Offensichtlich konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich als Deutscher nochmals auf die Schulbank zurück dürfte, Abitur machen und einen entsprechenden Beruf ergreifen könnte.
„Ist’s denn ganz und gar aus mit seiner Güte, und hat die Verheißung für immer ein Ende? Hat Gott vergessen, gnädig zu sein, oder ist sein Erbarmen im Zorn verschlossen?“
Warum lese ich diese sehr persönlichen Aufzeichnungen vor, über die ich im Grunde heute nur zutiefst erschrecken kann? War ich das wirklich? Mir scheint, ich habe mit diesem Menschen von damals heute nichts mehr zu tun.
Darum kann ich verstehen, wenn jüngere Menschen, die nach dieser Zeit geboren sind, sich mit solchen Erinnerungen und den möglicherweise noch vorhandenen Schuldgefühlen der langsam aussterbenden Kriegsgeneration sich schwer tun.
Dennoch ist es wichtig, dass wir uns erinnern. Wir sind, was wir erinnern. Wir Menschen leben von der Vergangenheit, auf Zukunft hin. Nur wer seine Vergangenheit kennt, kann seine Gegenwart gut gestalten und sich auf seine Zukunft verantwortlich einstellen. Das können wir aus der Bibel lernen, vor allem aus dem Buch der Juden, dem Alten Testament. Fast 300 Mal kommt das Wort Gedenken, „Zakar“, in der Bibel vor. Gott erinnert: „Ich werde an meinen Bund denken, der zwischen mir und euch und jedem lebenden Wesen ist und nie mehr sollen die Wasser zu einer Flut werden, alles Fleisch zu vernichten.“ so spricht Gott nach der Sintflut. Und das Volk erinnert sich an die Wege, die Gott mit ihm durch Wasser und Wüste ging. Damit ist freilich auch gesagt: Das Erinnern als solches bringt noch keine Erfolgsgarantie. Erinnerung ist erst fruchtbar, wenn sie unter dem Regenbogen Gottes geschieht, wenn sie zur Versöhnung führt. Das will ich noch näher erklären.
Wir Deutschen taten uns zunächst nicht leicht im Umgang mit unserer speziellen Vergangenheit. Auch die Kirchen hatten Mühe, mit ihrer eigenen Vergangenheit zu Recht zu kommen. So hat die evangelische Kirche in Deutschland zwar im Oktober 1945 ein Schuldbekenntnis gesprochen, das heute sogar als eines von zwei Glaubenszeugnissen aus dem 20. Jahrhundert in unserem Gesangbuch steht. Vergeblich sucht man in ihm jedoch ein Wort zur schweren Schuld auch der Christen an der Ausgrenzung der Juden und schließlich ihrer Vernichtung. Hatte nicht die Kirche mit ihrem jahrhundertealten Antijudaismus dem Judenhass Vorschub geleistet? War sie es nicht, die im Dritten Reich gedankenlos die Ariernachweise ausgestellt hatte?
Politisch stand in Deutschland nach 1945 zehn Jahre und länger die Erinnerung an Flucht und Vertreibung der eigenen Landsleute im Vordergrund. Dieses unbestreitbare Leid machte uns zunächst einmal blind für die wahren Ursachen und die wahre Dimension des eigentlichen Menschheitsverbrechens im 20. Jahrhundert, die Shoa. Erst der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 und der Frankfurter Auschwitzprozess 1963 bis 1965 in Frankfurt brachten einen Ruck im historischen Bewusstsein der Deutschen.
Blicken wir auf Leonberg, so sehe ich hier eine ähnliche Entwicklung, wenn auch in Phasen verschoben. Es sind Jahrzehnte ins Land gegangen, bis die Leonberger ernsthaft sich mit der Geschichte des KZ in dieser Stadt befasst haben. Auch unsere Blosenbergkirchengemeinde hier hat sich viel Zeit gelassen, bis sie ihrer Verpflichtung zum Gedenken mit dem Gedenkbuch eine konkrete Gestalt gab. 1967 wurde das Kirchengebäude errichtet, Erst 1992 fand das Erinnern durch das Totengedenkbuch mit den damals bekannten 293 Namen im Vorraum der Kirche einen sichtbaren Ausdruck.
Auch mir ist die ganze Tiefe dessen, was sich in dem einen Jahr von April 1944 bis April 1945 im Leonberger KZ an menschlichem Leid und damit auch an Schuld abgespielt hat, erst so richtig emotional bewusst geworden, als ich einzelnen ehemaligen KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern begegnet bin, als ich sie habe unter großer Anstrengung erzählen hören. Seither gehen mir die Zitate nicht mehr aus dem Sinn.
Der Italiener Giuseppe Zorzin sagte in einem Interview 1999:
„Der Tod war immer unter uns und mähte unser Leben wie der Bauer das Gras.“
Für viele Häftlinge war Leonberg bereits die zweite oder dritte Station. Ab Herbst 1944 kamen immer mehr ungarische, polnische und russische Juden direkt aus Auschwitz, wo sie fast alle Familienangehörigen verloren hatten. Mordeachai Nojovits hat dies im Jahre 2001 vor einer 9. Klasse der Gerhart-Hauptmann-Realschule anschaulich beschrieben:
„In Auschwitz stand der Mengele an der Rampe. Dr. Mengele, das war der Gott. Er hat gesagt: ‚Du gehst zum Arbeiten. Du gehst ins Gas.’ Er hatte einen Stecken wie ein Dirigent vom Orchester. Rechts, links, rechts, links. Der darf leben, der darf nicht leben. Und ich wurde zur Arbeit geschickt. Und meine Brüder und die Schwester kamen zur Gaskammer. Ich habe sie nie mehr gesehen.“
In einer solchen Situation bekommt das Psalmwort noch einmal eine andere Tiefe:
Als wir vor einigen Jahren mit einer Leonberger Gruppe Auschwitz besuchten, wurden die beiden mitreisenden Theologen von den sichtlich erschütterten Teilnehmern mit der Theodizeefrage bombardiert: Gibt es einen Gott, der so etwas zulassen kann? Ich bin damals unbefriedigt nach Hause gefahren. Mir ging keine einfache geschliffene Theologenantwort über die Lippen. Wie sollte es auch?
Yehoschua Amir, ein Rabbiner in Jerusalem, der noch rechtzeitig aus Deutschland geflohen ist und sich viele Jahre mit Holocaust-Überlebenden beschäftigt hat, schrieb einmal:
„Die Frage ‚Wo war Gott in Auschwitz?’ geht über menschliche Kräfte. Eine Antwort auf Auschwitz kann letztlich nicht gedacht, sondern nur getan werden. […] Wir mögen es drehen und wenden wie wir wollen: seit Auschwitz und durch Auschwitz ist es den Juden, aber auch den Nichtjuden schwerer geworden, an Gott zu glauben, an den Gott zu glauben, der uns Menschen ins Leben gerufen hat und unserem Leben einen Sinn gibt.“
Yehoschua Amir spricht von einem Paradox, dem Paradox des Glaubens.
Dieses Paradox finde ich wieder im Predigttext Psalm 77. Scheinbar ohne Zusammenhang stehen zwei konträre Aussagen völlig unvermittelt hintereinander:
„Hat Gott vergessen, gnädig zu sein?“ und unmittelbar danach heißt es:
„Darum denke ich an die Taten des Herrn, ja ich denke an deine frühen Wunder. […]
Dein Weg ging durch das Meer und dein Pfad durch große Wasser; doch niemand sah deine Spur.“
Erinnern, biblisch gedacht, heißt demnach: Sich eingebunden wissen in die große Heilsgeschichte Gottes. Erinnern heißt: Die Kraft göttlicher Zuwendung aus der Vergangenheit für das Jetzt wachrufen.
Solche Psalmen sind überliefert, damit wir in der tiefsten Anfechtung Worte zur Verfügung haben, beides zugleich zu sagen: „Hat Gott vergessen, gnädig zu sein?“ Und sich zu erinnern: „Ja, ich denke an deine frühen Wunder.“ Aus solchem Erinnern gilt es Kraft und Hoffnung zu schöpfen.
Als ich diese Verse las, erinnerte ich mich an einen Brief von Ivan Gerasymenko, einen ehemaligen Leonberger KZ-Häftling aus Kiew, den dieser im August 2000 an den Oberbürgermeister der Stadt Leonberg schrieb. Ivan Gerasymenko ist inzwischen verstorben, aber seine Tochter und der Schwiegersohn sind zu unserem Fest hierher gekommen. Der Vater schildert für uns in einem langen Brief seine Erinnerung an den Sylvesterabend 1944 im KZ Leonberg. Er war damals 19 Jahre alt:
»Ich lag auf meinem Bett und weinte. Ich dachte: Wie grausam können Menschen doch sein. Welche Erziehung haben sie genossen, um andere so zu erniedrigen. Aber in mir lebte dennoch die Hoffnung, dass ich überleben und wieder in meiner Heimat spazieren gehen würde, über die Felder, die Wälder und die Wiesen, und schließlich nach Hause zurück kommen, meinen Vater und meine Mutter wieder sehen würde«.
Ivan Gerasymenko ist heimgekommen. Er konnte sagen: „Du bist der Gott, der Wunder tut.“
Jeder von uns, so meine ich, kann zurückblicken.
Der Psalmist lädt uns alle ein, dies ihm gleich zu tun. 60 Jahre leben wir nun in Deutschland ohne Krieg. Freilich, eine Welt ohne Krieg gibt es immer noch nicht. Doch eine Frucht des Erinnerns an die Nazizeit war ohne Zweifel, dass viele junge Menschen den Weg der Kriegsdienstverweigerung gegangen sind und noch gehen. Die Frucht des Erinnerns war, dass wir Deutsche gelernt haben, Rassenhass ist Sünde. Ich habe erlebt in den letzten 60 Jahren wie Weiß und Schwarz sich in den USA zum ersten Mal die Hände reichten. Ich vergesse nicht den Augenblick, als unsere Gebete erhört wurden und Nelson Mandela in Südafrika frei kam.
Die Frucht des Erinnerns müsste sein, dass wir Deutschen, die 12 Millionen Flüchtlinge unter uns haben heimisch werden lassen, dass wir für immer ein Herz für Fremde und Ausländer hätten und sie nicht einfach in Lager wegstecken. „Darum denke ich an deine frühen Wunder.“
Und, liebe Freunde, wir alle waren und sind Zeugen der Versöhnung, indem ehemalige KZ-Häftlinge, die meine Generation zu Nummern degradiert hat, wieder hierher nach Leonberg zurück gefunden haben. Manche mögen sagen, ach dass ist nach 60 Jahren doch selbstverständlich. Wenn ich die Berichte aus dem Irak, aus Israel/Palästina und von wo auch immer in der Welt anschaue und wenn ich zurückdenke an meine Nazi-Jugend, dann ist das für mich nicht selbstverständlich. Es ist immer wieder und noch Zeit, der vergangenen, auch schlimmen Jahre zu gedenken und zugleich Gottes neue Wege und Wunder nachzuspüren. Dazu sind wir aufgerufen. Amen
„Vertraut den neuen Wegen und wandert in die Zeit, Gott will, dass ihr ein Segen für seine Erde seid.“
Lasst uns dieses Lied singen, 395, die Verse 1 bis 3.