Ergänzende Materialien zur Unterrichtseinheit „Bilder eines Shoa-Überlebenden“ von Eberhard Röhm.
(Die Unterrichtseinheit wurde veröffentlicht in der religionspädagogischen Fachzeitschrift „entwurf- Konzepte, Ideen und Materialien für den Religionsunterricht“, Heft 3 – 2021, Friedrichverlag, Hannover, Einzelheft, 64 S., 16,50 EUR + Versandkosten.)
- Zugrundeliegendes Buch zum Unterrichtsvorschlag:
Eberhard Röhm / Christina Ossowski: Moshe Neufeld. Bilder eines Shoah-Überlebenden. KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg e.V., Leonberg 2019, ISBN 978-3-00-062006-5. Das Buch (64 S., mit weiteren 19 Bildern des Künstlers) kann zum Vorzugspreis von 10 EUR + Versandkosten bei Eberhard Röhm oder über info@kz-gedenkstaette-leonberg.de bezogen werden.
- Eine Ausführlichere Biografie von Moshe Neufeld
findet sich im Beitrag von Eberhard Röhm: „Juden aus Ungarn: Moshe Neufeld“. In: Klaus Beer u.a.: Aus vielen Ländern Europas. Häftlinge des Konzentrationslagers Leonberg, hg. von der KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg e.V., S. 69 – 80, Bezug: info@kz-gedenkstaette-leonberg.de. Preis: 10 EUR + Versand.
- Video über Moshe Neufeld „Alleine bin ich geblieben“, von Vaclav Reischl, 30 Min, kann über die homepage www.kz-gedenkstaette-leonberg de/Video abgerufen werden.
- Ergänzende Materialien zu Baustein 4 des U-Vorschlags in der Zeitschrift „entwurf 3 – 2021: „Wo war Gott“ – Fragen von Elie Wiesel
Der katholische Theologe Prof. Reinhold Boschki hat im Internet einen Unterrichtsentwurf zu Elie Wiesel veröffentlicht mit einer Kurzbiografie des Schriftstellers und er stellt zwei Texte von Elie Wiesel einander gegenüber: „Gott ist überall“ (Aus Elie Wiesel: Was die Tore des Himmels öffnet, Geschichte chassidischer Meister, Herder Verlag, Freiburg, 1981, S. 27 – 29 und S. 11) und „Gott am Galgen“ (Aus Elie Wiesel: Die Nacht, Herder Verlag Freiburg 2008, S. 92 – 94). Die beiden Texte lassen sich als Schülermaterial herunterladen. Weitere Erläuterung dort. Vgl. unten M 1 und M 2. (http://www.hfjs.eu/md/hfjs/elie_wiesel/unterrichtsentwurf-elie-wiesel-prof.-dr.-reinhold-boschki.pdf).
- Ergänzende Materialien zu Baustein 4 in der Zeitschrift entwurf 3 - 2021: Abschluss der Unterrichtseinheit: Lesung von „Kaddisch – Ein Gespräch mit Gott“. Ein Libretto für Leonard Bernsteins Sinfonie Nr. 3, verfasst von dem Leonberger Auschwitz-Überlebenden Samuel Pisar. Fakultativ oder zusätzlich: Anhören der 3. Sinfonie von Leonard Bernstein mit Samuel Pisar als Sprecher des Libretto. (Vgl. unten M 3)
Samuel Pisar (1929 – 2015) war wohl der im späteren Leben prominenteste ehemalige KZ-Häftling des Leonberger KZ-Lagers. Ehe er nach Leonberg kam, war er als Jude aus Bialystok von Juli bis November 1944 in Auschwitz und ab Dezember im KZ Leonberg. Im späteren Leben war er ein hervorragender Anwalt für internationales Recht und Wirtschaftsberater mehrerer US-Präsidenten u.a. von John F. Kennedy und Bill Clinton. Sein Stiefsohn ist der heutige US-Außenminister Tony Blinken. Samuel Pisar war befreundet mit dem Komponisten Leonard Bernstein. Auf dessen Bitte hin schrieb Samuel Pisar für dessen 3. Sinfonie (Kaddish) ein symphonisches Poem, ein Sprech-Libretto. Dieses bewegende Gebet fußt auf seiner eigenen bitteren Biografie. Mehrmals hat Samuel Pisar bei Aufführungen der 3. Sinfonie mit weltberühmten Orchestern, u.a. in Paris, Jerusalem und Frankfurt / M. selbst die Sprecherrolle in englischer Sprache übernommen. Es gibt eine Aufführung der 3. Sinfonie durch das HR-Sinfonieorchester in Frankfurt/M., bei der Pisar die Sprecherrolle übernommen hat, die über Youtube abgerufen werden kann: (https://www.youtube.com/watch?v=zTAnmHPTKEk).
Eine ausführliche, bebilderte Biografie von Samuel Pisar, verfasst von Holger Viereck, findet sich in: Eberhard Röhm (Hg.): Die Schicksale von sieben Häftlingen des KZ Leonberg, KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg e.V., 2017, S. 9 – 50. (Bezug: info@kz-gedenkstaette-leonberg.de. Preis: 10 EUR + Versand.
- Materialien
M 1: Eli Wiesel: Gott ist überall
Der Chassidismus war damals, im 18. und 19. Jahrhundert die revolutionärste Bewegung innerhalb des Judentums. Er begeisterte die Jungen, rüttelte die Träumer auf, belebte die Armen, die Verzweifelten, die Geschlagenen ... Der Chassidismus gab den Hoffnungslosen Hoffnung und vermittelte denen, die es brauchten, das Gefühl dazuzugehören. Die entwurzelten, einsamen, ausgelaugten und ungebildeten Dörfler, die nicht durch eigene Schuld, sondern infolge der Umstände am Rande, wenn nicht gar außerhalb des Weltgeschehens lebten, fühlten plötzlich, daß sie irgendwohin gehörten, das Volk Israel war ihr Volk, sein Schicksal war ihr Schicksal. Die Macht der Bewegung lag nicht in einer Ideologie, sondern in der Art zu leben. Gott ist überall, sagte der Bescht, der Gründer der Bewegung. Auch im Leid? Auch im Leid, gerade dort. Gott ist, und das heißt: Er wohnt ihn jedem Menschen. Auch im Ungebildeten? Auch in den Ungebildeten, auch in den Sündern, auch in den Erniedrigten - ja, am meisten in den Erniedrigten Und Gott lässt sich finden. Jeder kann ihn begreifen.
Der Chassidismus lebt von Geschichten, die wieder und wieder erzählt werden. Eine solche
Geschichte handelt von Rabbi Naphtalie: Schon als Kind verblüffte er die Erwachsenen mit seinen schlagfertigen Antworten. Einmal wandte sich ein Gast, der mit seinem Vater befreundet war, an Naphtalie: „Naphtalie, wenn du mir sagst, wo Gott zu finden ist, will ich dir ein Goldstück geben.“ Das Kind antwortete: „Und ich gebe dir zwei, wenn du mir sagen kannst, wo er nicht zu finden ist.“
(Elie Wiesel, Was die Tore des Himmels öffnet. Geschichten chassidischer Meister, Herder-Verlag, Freiburg 1981, S. 27-29 und 11)
M 2: Eli Wiesel: Gott am Galgen
Als wir eines Tages von der Arbeit zurückkamen, sahen wir auf dem Appellplatz drei Galgen. Antreten.
Ringsum die SS mit drohenden Maschinenpistolen, die übliche Zeremonie. Drei gefesselte Todeskandidaten, darunter der kleine Pipel, der Engel mit den traurigen Augen.
Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich. Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind
gerichtet. Es war aschfal, aber fast ruhig und biss sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgens bedeckte es ganz.
Diesmal weigerte sich der Lagerkapo, als Henker zu dienen. Drei SS-Männer traten an seine Stelle.
Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schlingen eingeführt.
„Es lebe die Freiheit!“ riefen beide Erwachsenen. Das Kind schwieg.
„Wo ist Gott, wo ist er?“ fragte jemand hinter mir.
Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um.
Absolutes Schweigen im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter.
„Mützen ab!“ brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten.
„Mützen auf!“ Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Ihre geschwollenen Zungen hingen bläulich heraus. Aber der dritte Strick hing nicht reglos: der leichte Knabe lebte noch ...
Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mussten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch als ich an ihm vorüberschritt. Seine Zunge war noch rot, seine Augen noch nicht erloschen.
Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen:
„Wo ist Gott?“
Und ich hörte eine Stimme in mir antworten:
„Wo er ist? Dort - dort hängt er, am Galgen ...“
An diesem Abend schmeckte die Suppe nach Leichnam.
(Elie Wiesel, Die Nacht. Erinnerungen und Zeugnis, Herder Freiburg 2008, S. 92-94.)
Die beiden Texte von Elie Wiesel sind einem Unterrichtsentwurf von Prof. Reinhold Boschki entnommen, http://www.hfjs.eu/md/hfjs/elie_wiesel/unterrichtsentwurf-elie-wiesel-prof.-dr.-reinhold-boschki.pdf
M 3: „Kaddisch – Ein Gespräch mit Gott“. Libretto, verfasst und erzählt von Samuel Pisar
für Leonard Bernsteins Sinfonie Nr. 3
(mit Orchester, gemischtem Chor, Knabenchor und Sopran-Solo)
- Anrufung
Sprecher:
Allmächtiger Gott, unser Vater im Himmel:
Dies ist mein persönliches Kaddisch, eine Ode an das Leben,
Beseelt von den erhabenen aramäischen Totengebeten,
Verfasst für die gewaltige Sinfonie von Leonard Bernstein,
Und gewidmet dem Gedenken an John F. Kennedy,
Meine geliebten Mentoren und Seelenverwandten.
In unserem Zeitalter der Angst und Unruhe
Wollte der Maestro, dass mein Zeugnis,
Das den tiefsten Abgründen menschlichen Leidens entsprungen ist,
Und das Wunder meines Überlebens
In deinem Königreich erklinge
Mit seiner himmlischen Musik.//
Mein Kaddisch ist ein laienhaftes, Herr,
Zeitgenössisch, universell und sowohl an Dich
Als auch an deine gepeinigten Kinder gerichtet
-- Juden, Christen, Muslime und alle anderen –
An Gläubige und Ungläubige,
Welche sich nach Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit sehnen
In einer von Völker- und Brudermord geprägten Welt.//
Ich erhebe meine Klage mit Trauer und Wut,
Die hervorquellen aus meiner eigenen traumatischen Vergangenheit
Und aus der Flut des Hasses, der Gewalt und der Furcht,
Die uns wieder verschlingt.//
Überall trachten sich Todfeinde verschiedener Herkunft,
In Fanatismus und Terror verstrickt,
Gegenseitig nach dem Leben,
Selbst im heiligsten Land,
Wo sie nur Dich anbeten,
Und Dich anflehen, ihre Schwerter zu Pflugscharen zu machen.
Ich beweine sie alle, die Toten und die Lebenden.//
Meine ersten Tränen gelten meiner Familie und meinem Volk,
Daueropfer religiöser und rassistischer Verfolgung,
Die ihren historischen Höhepunkt in meiner Kindheit erreichte,
Die alles und jeden um mich herum zerstörte,
Während Du, höchster Gebieter des Universums, untätig zusahst.//
Ebenso gleichgültig warst Du, als ich gequält wurde
In Auschwitz, Majdanek und Dachau,
Wo Eichmanns und Mengeles grauenvolle Wirklichkeit
Selbst Dantes Höllenvision übertraf.//
Bis zum heutigen Tag plagen mich Schuldgefühle,
Weil ich überlebt habe,
Während so viele der Meinen ermordet wurden.
Nun muss ich Buße tun,
Denn das Kaddisch konnte ich nie aufsagen,
Da ich ihren Todestag nicht kannte.
Kein Abschied, keine Beerdigungen,
Keine Gräber für Grabsteine, Blumen oder ein Gebet –
Ein Gebet für ihre Erlösung./
IT‘KADAL V‘IT‘KADASH SH‘ME RABA.//
Kaddisch 1
Sprecher:
Gepriesen…//
Und geheiligt…//
Sei sein großer Name.//
Amen! //
Chor: Komplettes aramäisches Kaddisch
Sprecher:
Amen! Amen!
Möge Frieden in Fülle über uns kommen
Amen! //
Chor: Summend
Sprecher:
Der Geliebten, um die ich trauere, sind viele:
Mein heldenmütiger Vater,
Gefoltert, hingerichtet durch ein Erschießungskommando,
Und in ein Massengrab geworfen.
Meine schöne Mutter,
Deportiert in einem Viehtransporter, um zu sterben
Zusammen mit meiner engelsgleichen Schwester,
Die kaum gelebt hatte.
Meine Schulkameraden und eineinhalb
Millionen weitere Kinder./
Warum verschontest Du mich und nicht sie, oh Herr?
Welche Untaten, welche Sünden
Konnten sie schon verbrochen haben
In solch einem zarten Alter?//
Alle ausgelöscht – mit einem grausamen Streich.
Gemäß Deiner unergründlichen Logik,
Die in deinem Reich regiert.
Chor: Kaddisch
- Din Torah
Sprecher:
Herr, heute wende ich mich an Dich
Mit derselben tiefbewegten Stimme,
Die ich einst blasphemisch gegen Dich erhob
Als ich ein unschuldiges, knochendürres Kind war
Mit rasiertem Kopf und eingefallenen Augen
Zitternd an der Schwelle stehend
Zu einer der Gaskammern Birkenaus./
Zitternd und begierig zu erfahren:
Warum hast Du uns verlassen?
Wie kannst Du ein solch grausames Morden zulassen?
Kümmert es Dich überhaupt?/
An diesem verfluchten Ort und zu dieser verfluchten Zeit,
In der ich das Schiff der Zivilisation untergehen sah,
Als ich endlose Gräuel und Erniedrigungen ertrug,
Ließest Du mich im Stich, Vater!
Und in meiner grenzenlosen Verzweiflung zürnte ich Dir
Wie Moses, der den Felsen in der Wüste Sinai schlug,
Wie Hiob, der gegen seine ungerechtfertigte Bestrafung protestierte./
Während ich vor Hunger, Leid und Schmerz halluzinierte,
Während die Krematorien Feuer und Rauch spuckten,
Hörte ich zu beten auf.
Wie sollte ich weiterhin murmelnde Gebete über die Größe Gottes sprechen
Und die anderen frommen Verse der Verehrung aufsagen,
Die ich mit der Muttermilch aufgenommen hatte
Wie alle Kinder Abrahams
Seit Isaak und Ismael,
Seit Jesus und Mohammed?
Nein, dies konnte ich nicht. Dies mochte ich nicht.
Nicht dort, nicht in Auschwitz!/
Kannst Du mir meine Sünden verzeihen, Herr?
Kann ich Dir Deine vergeben?/
Ich kann vergeben, aber nicht vergessen.
Meine körperlichen und seelischen Wunden
Sind vor langer Zeit verheilt.
Aber die Wunden des Herzens,
Die für meine Lieben bluten, werden niemals heilen./
Da ich nun einer der letzten lebenden Zeugen
Der größten Katastrophe bin,
Die jemals von Menschen an Menschen verübt wurde,
Verfüge ich nicht mehr allein über mein Leben.
Sie leben ebenfalls in mir!/
Ich muss ihr schreckliches Vermächtnis weitertragen
An jüngere Generationen
Aller Rassen, Hautfarben und Glaubensrichtungen,
Damit nicht neue, vom Menschen verursachte Katastrophen
Ihre Welt zerstören,
Wie sie einst meine zerstörten.
Denn das Unaussprechliche, das Unvorstellbare
Ist wieder möglich.
Wenn blindwütiger Aufruhr, Unsicherheit
Und Furcht die menschliche Vernunft übermannen,
Ermächtigt Irrsinn diabolische „Retter“./
Auf diese Art gehen Demokratien zugrunde
Und die Jagd nach dem Sündenbock beginnt.//
Herr, erinnerst Du Dich an die markerschütternden Schreie
Der unschuldigen Männer, Frauen und Kinder,
Die deinen Himmel erschütterten,
Als das Gas sie zu Tode erstickte?
Ich war dort und hörte sie mit meinen eigenen Ohren.
Sie starben mit ihrem letzten Gebet
Und deinem geheiligten Namen auf den Lippen:
„ADONAI ELOHEINU, ADONAI EHAD!“
(Der Herr, unser Gott, ist ein einiger Herr!)
Nachdem die Stahltüren verschlossen worden waren,
Hatten sie nur noch drei Minuten zu leben.
Dennoch fanden sie genug Stärke
Ihre Fingernägel in die Wände zu krallen
Und die Worte einzukratzen: „Vergesst niemals!“//
Diese Schreie, diese Worte haben uns allen
Die heilige Verpflichtung auferlegt, sich an ihr Schicksal zu erinnern,
Und auf unser eigenes ständig zu achten./
Die in Ausschwitz auf meinen Arm tätowierte Häftlingsnummer
Erinnert mich jeden Tag daran,
Und heute, Herr, erinnere ich Dich.//
Chor: Kadenz
Sprecher:
Wie kann man überhaupt sicher sein,
Dass die Schoah gänzlich von Menschen verursacht wurde?
Aus dem Buch Genesis ist uns bekannt,
Was für ein wütender und rachsüchtiger Gott Du sein kannst,
Wenn Dich dein berüchtigter Zorn überkommt./
Ist es Wut oder Gleichgültigkeit,
Was dein Schweigen erklärt,
Während wir diffamiert,
Entmenschlicht und dezimiert wurden?/
Mich graut der Gedanke, Herr,
Aber diese erschreckende Passivität
Mag manch einen Teufel davon überzeugt haben
Und auch eine größtenteils gleichgültige Welt,
Dass der Holocaust,
Die jüngsten Genozide
Und die weltweit zunehmenden Gräueltaten
Akzeptabel waren und sind – auch heute noch.//
Kaddisch 2
Sprecher:
Ich kann noch immer die liebliche Stimme meiner Großmutter vernehmen,
Welche mir Wiegenlieder darüber vorsang, was für ein guter,
Was für ein liebevoller, was für ein barmherziger Gott Du bist.
Dass Du immer da sein würdest,
Um uns in Not zu beschützen und zu trösten./
Ich habe oft versucht, mir ihre Stimme in Erinnerung zu rufen,
Wenn ich deinen Schutz und Trost benötigte./
Diese liebliche Stimme, so grausam zum Schweigen gebracht,
In den Öfen von Treblinka.//
Sopran-Solo und Knabenchor: Kaddisch
Die Erinnerung an die Lieder meiner Großmutter
Hat mich immer in den Schlaf gewogen,
Selbst als Erwachsenen.
Aber alles, was ich in meinen Alpträumen sehen konnte,
War ihr bleiches, faltiges Gesicht,
Das sie im inbrünstigen Gebet zu Dir erhob,
Während die Mörder sie forttrugen./
YT‘KADAL V‘ITKADASH SH‘ME RABA! //
Scherzo
Sprecher:
Oh Herr, wie leidvoll doch
Die Geschichte deines „auserwählten Volkes“ ist.
Sieh das viele Unglück, welches über uns kommt
Schon seit undenklichen Zeiten://
Die Sklaverei in Ägypten,
Das babylonische Exil,
Die römische Eroberung,
Die räuberischen Kreuzzüge,
Die Spanische Inquisition,
Die zaristischen Pogrome,
Der nationalsozialistische Völkermord,
Und nun das Schreckgespenst des Dschihad.
Die Liste ist unendlich, Herr.
Und jetzt sind es neue, aufrührerische Demagogen, welche,
Die Schoa als einen „Mythos“ verlachend,
uns erneut auszulöschen drohen./
In ihren Augen sind wir immer schuldig./
Schuldig, als wir Dich erkannten
Als den alleinigen und ewigen Schöpfer,
Deine Gebote verkündeten
Einer ungläubigen Welt
Und andere große Religionen erzeugten.
Schuldig während der Diaspora,
Als wir, friedliebend und unbewaffnet,
Wie Lämmer abgeschlachtet wurden.
Schuldig im Gelobten Land,
Als wir uns zu Wehr setzten,
Um nie wieder abgeschlachtet zu werden./
Es stimmt, wir besitzen kein Leidensmonopol.
Heutzutage führen sich religiöse Extremisten wie Heilige auf,
Töten und verstümmeln willkürlich Unschuldige,
Einschließlich ihrer eigenen Familie, ja, sogar sich selbst,
Als ob sie von einem Totenkult besessen wären.
In Deinem geheiligten Namen???
Unser aller Gott???
Welcher uns gebot, das Leben zu ehren???//
Etwas scheint wirklich falsch zu laufen
In deinem Himmelsreich,
Unserer Situation nach zu urteilen, in unserem weltweiten, babylonischen
Chaos.//
Albert Einstein hat uns versichert,
Dass Du nicht mit dem Universum würfelst.
Aber warum spielst Du mit unserem Schicksal?//
Sind unsere Sünden so groß, dass wir uns jetzt
Gefasst machen müssen auf die „Endlösung“ der Menschheit,
Mit Plagen wie Giftgas,
Chemiewaffen,
Atombomben
Und Raketengeschossen
In den blutrünstigen Händen
Neuer Despoten und Fanatiker?//
Es steht an der Wand geschrieben, Herr.
Sprecht mir nach:
„Vergesst niemals, Amen!“
„Vergesst niemals, Amen!“//
Vater, im Verlauf meiner langen Odyssee
Hast Du mich auf die Probe gestellt über die Grenzen
Menschlicher Belastbarkeit hinaus./
Brutal meiner Familie entrissen,
Meinem heimatlichen Boden, meinen spirituellen Wurzeln,
Wurde ich zuerst einer Gehirnwäsche durch Stalin unterzogen,
Welcher mich rot wollte,
Dann verstümmelt von Hitler,
Welcher mich tot wollte.
Infolge der Landung in der Normandie,
Als die Alliierten sich Dachau näherten,
Flüchtete ich im Kugelhagel
Und wurde befreit von Panzern,
mit weißen Sternen der Freiheit verziert.
Aus voller Lunge schrie ich: „Gott segne Amerika!“
Wiederbelebt in der warmen Umarmung der Demokratie,
Fing ich wieder an zu studieren, zu arbeiten und aufzublühen
An der Schnittstelle zwischen amerikanischer,
Britischer und französischer Kultur.
Dennoch habe ich niemals deine Herde verlassen,
Nichts konnte jemals erschüttern
Das Gelübde meiner Vorfahren, Dich zu verehren,
Wenn auch nur auf meine eigene, unorthodoxe Art und Weise.
Dieses Gelübde ermutigt mich, Dir heute zu sagen://
Sieh, schwerwiegende Unruhen dringen
In Herz und Verstand der Menschen ein.
Viele vermuten, dass dein Himmel leer ist,
Oder, schlimmer noch, dass er Aberglauben,
Zwietracht und Chaos auf der Erde hervorruft.
Dass, ob mit oder ohne Dich,
Wir nur auf uns selbst zählen dürfen.
Es wird höchste Zeit, dass Du
Unser ewiges Bündnis bekräftigst.
Dass Du dein Versprechen
Eines messianischen Zeitalters erneuerst.//
Erneuere dein Versprechen!!!
Kaddisch 3
Kinderchor:
Es heißt, dass im alten Griechenland,
Als die Götter menschlicher,
Die Menschen göttlicher waren.//
Herr, kannst Du nicht ein wenig menschlicher sein,
Damit wir ein wenig frommer werden können?//
Wir sind bestrebt, die Lehren
Deiner ehrwürdigen Propheten zu preisen.
Wir wollen, wir können an Dich glauben.
Aber glaubst Du an uns?//
Gewähre uns einen Hauch Deiner transzendenten Weisheit
Damit wir lernen in Harmonie zu leben,
Und einstimmig fröhliche Psalmen zu singen
Dir zu Ehren.
Kinderchor:
Majestätische, rätselhafte Gottheit,
Wer immer Du bist, wo immer Du bist,
Deine Allgegenwart unter uns ist so alt,
So gewaltig, so fest verankert,
Dass ich nicht zu fragen wage, ob sie Realität oder Illusion ist.
Davon unabhängig bist Du eine unverzichtbare
Quelle des Trostes und der Hoffnung für uns alle./
Dennoch ist mein Kaddisch kein Bekenntnis
Religiöser Wiedererweckung.
Wie die meisten meiner Mitmenschen
Bleibe ich zerrissen zwischen Glauben und Vernunft,
Offenbarung und Aufklärung,
Tradition und Moderne.
Nach meiner Rückkehr aus dem Tal des Todes
Halfen mir unbändige Lust zu leben, zu lernen, der Allgemeinheit zu dienen,
Über ein grausames Los zu triumphieren./
Ja, die Vorsehung meinte es gut mit mir
Und heute ist mein Glück vollkommen./
Aber was bin ich am Ende,
Wenn nicht ein demütiger Bote
Aus einer Welt, welche einst zusammenbrach,
Beunruhigt darüber, die heutige Welt
Auf einen weiteren Zusammenbruch zusteuern zu sehen?
Und was ist meine Botschaft,
Wenn nicht die, dass der Mensch, obwohl nach deinem Bildnis erschaffen,
Und ausgestattet mit der Freiheit,
Zwischen Gut und Böse zu wählen,
Gleichermaßen fähig bleibt des Schlimmsten und des Besten,
Des Hasses und der Liebe,
Des Wahnsinns und der Genialität.
Dass, wenn wir die bitteren Lektionen der Vergangenheit nicht beherzigen,
Die Unantastbarkeit und Würde des Lebens nicht respektieren
Und die Kernwerte aller großen Glaubensbekenntnisse nicht aufrechterhalten,
Seien es sakrale oder weltliche,
Die Mächte der Dunkelheit mit voller Kraft zurückkehren werden,
Um unsere Chancen für eine bessere Zukunft zu vernichten.//
Finale
Sprecher:
Vater, Vater …
Erinnerst Du Dich des wunderbaren Frühlingsanbruchs,
Als die GIs erschienen, gleich Engeln aus dem Himmel,
Um mich aus der Hölle zu retten?/
Ich war noch ein Junge,
Allein im Hexenkessel von Hitlers Europa,
Gleich dem jungen Joseph
Im Kerker des Pharaos von Ägypten.
Aber ich fühlte mich nicht länger verlassen, weil
Deine Göttlichkeit plötzlich
So unglaublich menschlich wurde.
Du hast atemberaubende Wunder
Im biblischen Maßstab vollbracht,
als Du die Unterdrückten, die Versklavten
Und die Zerstreuten
Aus den Fängen der Tyrannei befreitest,
Um deinen Tempel wieder aufzubauen.
Auch für mich hast Du Wunder vollbracht,
Aus der Asche hast Du
Mein schwaches Lebensflackern zu einer Flamme entfacht./
Du machtest meinen zerrütteten Geist empfänglich
Für den Zauber des Wissens,
Der Kultur und Schönheit.
Du brachtest mir sogar bei, wieder zu lieben
Und zu träumen.
Vor allem, Vater,
Segnetest Du mich mit einer neuen
Glücklichen Familie.
Einer Frau, Kindern und Enkelkindern,
Deren strahlende Gesichter
Und tadellose Charaktere
Jeden Tag die Erinnerung an jene wieder aufleben lassen,
welche ich verloren habe./
Eines Tages – mögen sie – für mich – das Kaddisch – sprechen …//
Folglich, oh großartiger und einziger Gott Abrahams
Neige ich, mit allem Respekt vor jeglicher Glaubensrichtung,
Und ohne jemandem etwas Böses zu wollen,
Mein Haupt in Richtung Jerusalem,
ihrer Synagogen, Kirchen, Moscheen,
ihrer Klagemauer, ihrer Gedenkstätte Yad Vashem,
Um für Dich mein inbrünstiges Hoffnungsgebet zu singen,
das Strömen von Blut entsprungen ist.
Trete wieder mit uns in Beziehung, Herr,
Führe uns zu Versöhnung,
Zu Toleranz und Solidarität
Auf diesem kleinen, uneinigen, zerbrechlichen Planeten,
Unserem gemeinsamen Zuhause.
Amen!
Amen !
Amen!!!//
Sopran-Solo, Männer-, Frauen- und Kinderchor: Kaddisch.
Quelle: Eberhard Röhm (Hg.): Die Schicksale von sieben Häftlingen des KZ Leonberg, KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg e.V., 2017, S. 51 – 60. / (Samuel Pisar / Deutsche Übersetzung: Marion Acker)