LkZ-Serie über das KZ Leonberg, Teil 1

Ehemaliges KZ-Außenlager Leonberg

Das dunkelste Kapitel der Leonberger Stadtgeschichte

07.01.2025 - 18:03 Uhr

Eberhard Röhm hat 1999 die Gedenkstätteninitiative Leonberg mitgegründet. Foto: Simon Granville

Bis vor 80 Jahren gab es in Leonberg ein KZ-Arbeitslager. Der Leonberger Historiker Eberhard Röhm erzählt vom dunkelsten Kapitel der Leonberger Stadtgeschichte, seiner Zeit in der Hitler-Jugend und wie er händisch eine Datenbank der KZ-Häftlinge anlegte.

Chiara Sterk

 

Vor achtzig Jahren, von April 1944 bis April 1945, gab es in Leonberg ein Konzentrationslager. Kein Vernichtungslager, ein Arbeitslager der SS für die Augsburger Firma Messerschmitt, das zum Lager in Natzweiler im Elsass gehörte. Will man heute etwas über dieses dunkle Kapitel der Leonberger Stadtgeschichte wissen, gibt es vermutlich keinen, der mehr darüber weiß, als der Leonberger Eberhard Röhm.

Der Historiker und Theologe hat im März 1999 gemeinsam mit weiteren Leonbergern die KZ-Gedenkstätteninitiative gegründet und in mühsamster Quellenarbeit so ziemlich alles zusammengetragen, was heute über das einstige Leonberger KZ bekannt ist. Röhm ist heute 96 Jahre, auch er war damals wie viele andere in der Hitlerjugend aktiv. „Ich gehörte zu den Verblendeten“, wie er selbst sagt. Ob darin sein Antrieb liegt?

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„Sie sind barfuß in gestreiften Anzügen die Bahnhofstraße hochgelaufen und dann in die Seestraße eingebogen“, erzählt Röhm. Am alten Güterbahnhof seien sie damals in Viehwaggons angekommen, oftmals über andere, größere Lager wie Natzweiler. „Da haben die Zeitzeugen gewohnt, die wir vor 20 Jahren interviewt haben.“ Die KZ-Häftlinge wurden als Fachleute ausgewählt, „das war ihre Überlebenschance.“ Teilweise haben sie sich älter gemacht, wie der 15-jährige Samuel Pisar, oder vorgegeben, sie seien ausgebildete Mechaniker. 5000 Häftlinge habe das Leonberger KZ insgesamt beherbergt, schätzt Röhm – also in etwa so viele, wie damals in Leonberg lebten.

Er beschreibt die Errichtung von Außenlagern wie dem in Leonberg als „das letzte Aufbäumen“ des NS-Regimes. Denn die Front, an der die Alliierten vorrückten, kam immer näher. Teil davon war die sogenannte „Wunderwaffe“, das erste Kampflugzeug mit Düsenantrieb der Augsburger Firma Messerschmitt. Aber um die soll es nicht gehen, wenn er über diese Zeit spreche, „das wichtigste in diesem Kapitel sind und bleiben die Menschen“, wird Röhm nicht müde zu betonen. Die sollten unterirdisch, dezentral helfen, Rüstungsgüter zu produzieren – damit die Amerikaner und Engländer nicht mit einzelnen Bomben ganze Produktionen lahmlegen konnten. So kam man auf Leonberg, wo damals der erste Autobahntunnel durch den Engelberg führte. In zwölfstündigen Wechselschichten mussten die Häftlinge dort sieben Tage die Woche die Tragflächen der Kampfflugzeuge anfertigen.

Röhm: „Die NS-Zeit war eines der wichtigsten Themen für mich.“

Röhm ist zehn Jahre alt, als der Krieg beginnt. „Es gab eine Gehirnwäsche damals“, sagt Röhm, erzählt davon, wie sie die Front jeden Tag mit Stecknadeln auf der Karte absteckten und von Sommerlagern in der Hitlerjugend. Erinnert sich an einen Aufsatz als Schüler im November 1944, in dem er an den Endsieg glaubte. Die Frontverkürzung in ganz Europa sei rein taktisch gewesen, um so später den Feind mit einem raschen Vormarsch überraschen zu können. Er bedauert, dass seine Eltern nie mit ihm und seinen vier Brüdern über die Nazi-Zeit gesprochen haben, ihre Sorgen nicht mit ihnen geteilt haben. Mit jedem Wort, das er spricht, wird der 96-Jährige lauter, seine Stimme kräftiger und der inzwischen kleine, alte Mann, größer.

Ende der 70er erfährt Röhm vom ehemaligen Leonberger KZ-Außenlager

Vor dem alten Engelbergtunnel wurde eine Metallwand mit den Namen von 3000 KZ-Häftlingen aufgestellt. Foto: Simon Granville

Auch während er Theologie studiert, ist die Nazi-Zeit kein Thema. Röhm verwendet erst den NS-Begriff „Drittes Reich“, korrigiert sich dann. Röhm ist gerade Dozent in der Lehrerausbildung, als „sein engster Freund“, wie er sagt, auf ihn zukommt, ob sie eine Ausstellung für den Reichstag in Berlin organisieren wollen über die Kirche in der NS-Zeit. „Da habe ich dann mit dem Verlag gesprochen, für den ich damals gearbeitet habe, ob die den Katalog als Broschüre dazu drucken, der dann auch ein Schulbuch wurde.“ Es folgen weitere Bücher der beiden, besonders als Röhm schließlich in Rente geht. „Die NS-Zeit, insbesondere das Versagen der Kirche angesichts der Judenverfolgung, war eines der wichtigsten Themen für mich.“

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Ende der 70er stößt Röhm dann darauf, dass es in Leonberg ein KZ gab. Dass dort, auf dem Blosenberg, wo sein Sohn gerne Fußball spielt, einst mehrere Hundert Tote verscharrt wurden. Seit 1972 ist er im Ort Religionslehrer am Albert-Schweitzer-Gymnasium. Dann wird er an das pädagogisch-theologische Zentrum der Württembergischen Landeskirche berufen. Dort ist er bis zu seiner Rente im Jahr 1993 als Dozent für die Fortbildung der Religions-Pädagogen zuständig und entwickelt Lehrpläne, schreibt Schulbücher. „Ich habe meinen Schülern über die KZs in Dachau oder Flossenbürg erzählt“, sagt Röhm. „Aber dass es hier in Leonberg ein Jahr lang ein KZ gab, dass hier auf einem Berg 400 Menschen verscharrt wurden“, sagt er und bricht ab. „Und niemand in der Stadt wollte das behandeln.“

Viele Häftlinge wurden schon vor der Evakuierung zum Sterben weggebracht Mehr als 30 Jahre ist das Leonberger Außenlager zu diesem Zeitpunkt Geschichte, im April 1945 wurde es evakuiert. Die meisten Häftlinge kamen in andere Lager nach Bayern. Doch vorher mussten sie zu Fuß nach Esslingen oder Ulm. „Der mühevolle Fußmarsch vom Lager in der Seestraße zum Bahnhof Esslingen und weiter nach Bayern, verharmlosend Evakuierung genannt, wurde für viele im wörtlichen Sinne zum Todesmarsch und zur Todesfahrt“, sagt Röhm. Ab Herbst wurden allerdings schon Kranke, die nicht mehr arbeitsfähig waren, in Sterbelager gebracht.

Aus Anlass des 750. Geburtstags der Stadt Leonberg im Jahr 1998 nahm Röhm an einer Geschichtswerkstatt zur Nachkriegszeit teil und führte Interviews. „Plötzlich fängt eine Frau immer wieder an, vom KZ zu erzählen“, sagt Röhm. Im selben Jahr wurde er gebeten, zum 50-jährigen Jubiläum des Samariterstifts zu dessen Gründungsgeschichte zu sprechen. 1948 war dieses in die erhalten gebliebenen Gebäude des „Neuen Lagers“ eingezogen. Nun wurden erstmals KZ-Häftlinge offiziell nach Leonberg eingeladen. Kurz darauf, 1999, gründet Röhm mit Leonberger Freunden der Grünen Alternativen Bürgerliste GABL, Angehörige der Blosenberg-Kirchengemeinde und dem Leiter des Samariterstifts die KZ-Gedenkstätteninitiative.

Die Mitglieder reisen mit Dolmetschern nach Italien, Frankreich und Israel, um sich mit ehemaligen Häftlingen und Hinterbliebenen auszutauschen. „Ich habe damals eine Beschäftigung gesucht und habe jeweils „hier“ gerufen, wenn man nach einem Moderator suchte“, resümiert Röhm. Und wird immer bescheidener: „Es hat genug Leute in Leonberg gegeben, die zu diesem Zeitpunkt darauf gewartet haben, dass jemand bei der Erforschung der KZ-Geschichte voran marschierte.“ Die Zeit sei nach 50 Jahren einfach reif für die Erinnerungsarbeit gewesen. Andere waren mit der Gedenkarbeit fünf oder zehn Jahre eher dran. „Von denen konnten wir viel lernen. Ich war also, wenn Sie so wollen, ein Netzeknüpfer, nicht mehr, aber auch nicht weniger.“

Röhm hat eine eigene Datenbank mit den Namen der KZ-Häftlinge angelegt

Mehrere Hundert Seiten, etwa 4000 Namen, umfasst Röhms Datenbank heute, die er händisch an seinem Computer in seinem Schreibzimmer unter dem Dach erstellt hat. Jahr für Jahr wurden das mehr – wenn sich Urenkel bei ihm meldeten: „Die erzählen dann, dass sie erfahren haben, dass der Uropa im KZ war.“ In seiner Datenbank vermerkt Röhm den Namen der Häftlinge, wann sie nach Leonberg kamen, welchen Beruf sie hatten und woher sie kamen.

Die Datenbank wird geboren, als ihm ein Luxemburger KZ-Häftling, der in Neckarelz inhaftiert war, Kopien von Nummernbüchern übergibt. Darin findet Röhm Nummernbücher, also Transportlisten mit den Namen der Häftlinge und Kommentaren, wohin die Häftlinge transportiert wurden. Ein „L“ oder ein „Leo“ bedeutet, dass die Menschen nach Leonberg gebracht wurden. Er wendet sich an große Archive wie das Arolsen-Archiv, sammelt Namen um Namen, wälzt dafür alle möglichen Quellen, auch Tagebücher.

Unter den Leonberger Häftlingen waren ausschließlich Männer. Die meisten der KZ-Häftlinge kamen aus Polen und der Sowjetunion, anschließend folgten Italiener, Ungarn und Franzosen, dann erst Deutsche. Verhältnismäßig wenige kamen aus dem übrigen West- und Nordeuropa: Norweger und Niederländer wurden von den Nationalsozialisten als „germanische Blutsbrüder betrachtet“, wie Röhm sagt.

Eberhard Röhm vor seiner Datenbank auf dem Dachboden seines Hauses. Foto: StZN/Chiara Sterk

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Heute befindet sich im alten Tunnel die Gedenkstätte mit einer Ausstellung, davor wurde eine Metallwand aufgestellt, auf der die Namen von 4000 KZ-Häftlingen stehen. 40 bis 50 Führungen macht die Gedenkstätteninitiative mit Schulklassen jedes Jahr, die Ausstellung hat von März bis Oktober jeden Sonntag geöffnet.

Röhm betont, dass die Führungen von Schul- und Erwachsenengruppen von Lotsen gemacht werden, nicht von „Führern“. Über die Jahre waren immer wieder ehemalige KZ-Häftlinge da, haben mit Röhm und anderen Mitgliedern die Gedenkstätte im Tunnel besucht. „Ich erinnere mich noch, wie sie mit Tränen in den Augen im Tunnel standen und erzählt haben.“

Die nächste Generation in der Initiative ist längst eingeführt Inzwischen hat Röhm den Vorsitz an Marei Drassdo übergeben, die früher seine Schülerin am Albert-Schweitzer-Gymnasium war. Und hat mit seinem Engagement auch seinen Enkel angesteckt, der sich zum Lotsen hat ausbilden lassen. „Da habe ich zu ihm gesagt, die praktische Ausbildung vor Ort machst du natürlich bei deinem Opa“, sagt Röhm schmunzelnd.

Das Ende des Leonberger KZ jährt sich zum 80. Mal

KZ-Außenlager Leonberg
Von April 1944 bis April 1945 waren im Leonberger Arbeitslager rund 5000 Häftlinge untergebracht. Die Häftlinge mussten im alten Engelbergtunnel für die Augsburger Firma Messerschmitt arbeiten. 389 Häftlinge starben in Leonberg, viele weitere kamen in Sterbelagern, anderen Lagern oder auf der Fahrt dahin ums Leben.

Serie
In mehreren Beiträgen wollen wir bis April – 80 Jahre nach dem Ende des Lagers – auf das dunkelste Kapitel der Leonberger Stadtgeschichte blicken. In weiteren Beiträgen kommen KZ-Häftlinge sowie ihre Hinterbliebenen zu Wort und erinnern sich an ihre Zeit in Leonberg.

 


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