Auf dem Weg von der Hölle Auschwitz nach Leonberg

von Daniel Renkonen
Leonberger Kreiszeitung, 15. November 2002

LEONBERG - Eberhard Röhm kennt das Schicksal vieler Leonberger KZ-Häftlinge. Zahlreiche Gespräche hat er schon geführt, in Archiven geblättert. Nun aber hat Röhm die Gewissheit: Viele der Häftlinge kamen aus der "Hölle" Auschwitz nach Leonberg. Am Mittwoch legte Röhm einen neuen Teil des Kapitels in der Gerhart-Hauptmann-Realschule offen.

Wie ein Mahnmal ragt die Rampe von Birkenau in die Landschaft. Die überwucherten Gleise sind zu sehen, ebenso die "Todeszäune". Birkenau war eines von drei großen Lagern des Vernichtungskomplexes Auschwitz. Der idyllische Name stammt vermutlich von den vielen Birken, die um das trostlose Gelände herum wachsen. Aber er ist trügerisch. Wie viele Menschen hier von den Nazi-Schergen vergast, gequält, misshandelt wurden, weiß keiner so genau.

Dafür haben die Mitglieder der Leonberger KZ-Gedenkstätteninitiative nun die Gewissheit, dass sich die Blutspur von Auschwitz zweifelsfrei nach Leonberg gezogen hat. Das wurde aus schriftlichen Dokumenten deutlich. Sie stammen mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem Jahr 1944 und wurden in Sütterlin-Schrift verfasst.

Eberhard Röhm ist einer derer, die mit ihren Recherchen die dunkle Vergangenheit der Stadt ausgeleuchtet haben. Knapp eine Woche war er mit anderen Mitgliedern der Gedenkstätteninitiative in Auschwitz unterwegs, um Fragen zu stellen, Archive auszuwerten und das erschreckende Ausmaß der Tötungsmaschinerie zu besichtigen. "Wir haben nur eine Vorahnung von dem, was dort wirklich geschah", sagte Röhm am Mittwochabend in der Triangel.

Zwei Stunden schilderte er voller Empathie von sechs Einzelschicksalen aus dem größten Konzentrationslager der Welt, das allein flächenmäßig größer ist als eine Stadt wie Leonberg. "Sie brauchen mindestens eine Woche, um das ganze Ausmaß dieses KZ überhaupt zu verinnerlichen", meinte Röhm ergriffen. Ein Teil der Vernichtungsfabrik wurde inzwischen in ein Museum verwandelt, in dessen Archiv unzählige Dokumente und Bilder lagern.

Mit Hilfe des dortigen Museumsdirektors hat Röhm sie sorgfältig durchforstet. Dabei verfolgte er die Spur von mehreren Häftlingen, die später über das KZ Dachau ins Arbeitslager Leonberg transportiert wurden. Auf die richtige Fährte brachte ihn ein Fernschreiben vom 11. November 1944. Darin korrespondieren die Geheime Staatspolizei Straßburg und Richard Baer, dritter Lagerleiter in Auschwitz, über 200 "arische männliche Häftlinge". Sie waren laut Fernschreiben für den Weitertransport zur "Firma Presswerk" vorgesehen, womit offenkundig das KZ Leonberg gemeint war. "Ich nehme an, dass der Weg die Gefangenen zunächst über die Firma Messerschmitt in Bayern führte", sagte der pensionierte Pfarrer und Religionspädagoge Röhm.

Einer von denen, die Auschwitz und Leonberg ganz unmittelbar erlebt haben, ist Samuel Pisar. Der 1928 geborene Architekt und Diplomat lebt in Paris. Trotz mehrmaliger Einladungen ist es der KZ- Gedenkstätteninitiative bisher nicht gelungen, den Zeitzeugen zu einem Besuch nach Leonberg einzuladen. Pisar kam vom KZ Treblinka nach Birkenau, wo er in einem Kompost-Kommando arbeitete. Diese Gruppe von Häftlingen musste die anfallenden Abfälle zum Kompostieren bringen und verarbeiten. Diese Tätigkeit galt im KZ noch als privilegiert. Ein traumatisches Schicksal mit Auschwitz verbindet den 70-jährigen Israeli Moshe Neufeld. Er verlor dort am 22. Oktober 1944 seinen Vater. Als Moshe sah, wie sein Vater vor seinen Augen in die Gaskammer gebracht wurde, versprach er Rache. Auf die Frage, wann er denn räche, antwortete er trocken: "Die Rache sind meine zwölf Enkelkinder."

Kleine Ergänzungen zum vorliegenden Beitrag:

Die am Abend gezeigten Dokumente enthalten eindeutige Datumsangaben, stammen also nicht nur „wahrscheinlich“ aus dem Jahr 1944: Der Transport von Auschwitz nach Leonberg wurde mit Fernschreiben vom 11.11.1944 angekündigt. Die Quittierung eines Prämienscheins über 1 RM für Samuel Pisar für seinen Einsatz im Kompostierungskommando im Männerlager Birkenau erfolgte am 18.8.1944. Die Krankmeldung von Markus (Mordechai) Nenowicz (Neujovitz) fand am 17.6.1944 statt.

Die Lager Auschwitz nehmen nur dann den Raum der heutigen Stadt Leonberg ein, wenn man – wie auf einer gezeigten Karte dargestellt – die Außenkommandos mit einbezieht.

Samuel Pisar ist nicht Architekt, sondern ein international angesehener Rechtsanwalt, der heute in Paris lebt.
Zu den Zahlen: Im August 1944 zählte man etwa 100.000 Häftlinge in Auschwitz, zusätzlich waren 50.000 Häftlinge in Nebenlagern von Auschwitz untergebracht. Nach Schätzungen wurden 1,2 bis 1,6 Millionen Menschen in Birkenau ermordet. Von den 405.000 Häftlingen, die nicht sofort umgebracht, sondern für Arbeitskommandos ausgewählt wurden und darum eine Nummer eintätowiert bekamen, überlebten 65.000. Im Januar 1945 wurden vor Auflösung des Lagers 58.000 Häftlinge auf die berüchtigten Todesmärsche geschickt, von denen viele unterwegs starben. Einige von diesen kamen auch nach Leonberg.

(Angaben nach „Enzyklopädie des Holocaust“)
Der Vortrag fand nicht in der Gerhart-Hauptmann-Realschule statt, sondern vor dem Freundeskreis des Albert-Schweitzer-Gymnasiums in der „Triangel“.

In jedem Fall vielen Dank an den Autor für den lebendigen Artikel wie überhaupt an die Leonberger Kreiszeitung für ihre regelmäßigen, aufmerksamen Berichte.

gez. E.R.


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