Den Menschen von damals ihr Gesicht zurückgeben
von Anja Tröster
Stuttgarter Zeitung, 2. Mai 2003
Leonberger Gedenkstätteninitiative präsentiert ein filmisches Porträt von vierzehn Überlebenden des früheren Konzentrationslagers
LEONBERG. Ein Filmporträt von vierzehn Überlebenden des Leonberger Konzentrationslagers hat jetzt die örtliche Gedenkstätteninitiative vorgestellt. Der Film des Stuttgarter Regisseurs Vaclav Reischl wird nicht nur im Museum zu sehen sein, sondern ist auch auf Video erhältlich.
Vierzig Stunden Material hat Vaclav Reischl gesammelt. Vierzig Stunden, in denen ihm die 14 Zeitzeugen von ihrem Leid berichten. Einige der Überlebenden porträtierte er bei einem Besuch in Leonberg, andere besuchte er in Tschechien, Polen und Israel. "Ich wollte diesen Menschen wieder ein Gesicht geben", sagt der gebürtige Tscheche, der seit mehr als dreißig Jahren in Deutschland lebt. "Ich wollte entheroisieren und entdämonisieren."
An der Geschichte des Leonberger Lagers der Firma Messerschmitt interessiert ihn eines besonders: "Noch vor wenigen Jahren ist nicht mehr gegenwärtig gewesen, dass es dieses Lager einmal gab. Bis jemand zu buddeln begann. In so einem Rahmen lässt sich die Allgegenwärtigkeit des Bösen besser zeigen." Reischl hat nicht nur mit Überlebenden gesprochen, sondern auch mit Leonbergern, die 1944 im Lager gearbeitet haben. Für das Porträt der Überlebenden hat er das Material allerdings nicht verwendet. Nur sie, niemand anders, sollten in dem Beitrag zu sehen sein.
Jene, die nach Leonberg gekommen sind, hat Reischl im Tunnel interviewt, dort, wo sie einst unter unvorstellbaren Bedingungen die Flügel des Messerschmitt-Düsenjägers zusammensetzen mussten. Und es ist verblüffend, wie allein die Enge der Röhre in die Vergangenheit zurückzuführen vermag: Sowohl die Gesprächspartner beim Interview wie auch die Zuschauer des Films. Mit diesem Kunstgriff schafft der Film die Trennung zwischen jetzt und damals, zwischen den Erinnerungen der Überlebenden einerseits und ihrem Leben heute andererseits, also der realen Bewältigung des Erlebten.
Im ausverkauften Kino taten sich die 180 Besucher schwer mit der Diskussion. Die erste Frage eines Zuhörers bestimmte den ganzen Verlauf des Abends. Der Mann berichtete, dass er des Öfteren gehört habe, wie Menschen Brot auf der Fensterbank oder Äpfel am Wegrand hätten liegen lassen. "Gibt es ein Zeichen der Wahrheit oder ist das eine schöne Legende?", fragte der Italiener. Der ehemalige Gestapo-Häftling Piet Schultz aus Holland wollte dazu nicht viel sagen, hatte er doch nicht das Gleiche erleiden müssen wie die Lagerinsassen. "Die Hilflosigkeit war in Angst begründet", warb eine Zuhörerin um Verständnis. "Es wurde im Einzelnen durchaus geholfen", sagte Frohwin Junker, der nach der Bombardierung Stuttgarts nach Leonberg gekommen war.
Für die Diskussion um eventuelle Gesten der Hilfe hatte Vaclav Reischl kein Verständnis. "Wir haben bei unserer Recherche viel von Angst gehört und - auch das muss man sagen - viel über Feigheit", sagte der Regisseur. "Das Beste, was wir schaffen wollten, ist ein Stück Bescheidenheit." Volker Kucher von der Initiative erklärte, warum man sich bewusst gegen die Thematisierung eventueller Hilfeleistungen im Kontext unvorstellbaren Leids entschieden habe: "Es könnte ganz schön banal rüberkommen, von ein paar Äpfeln zu erzählen, einem Stück Brot."
Die Erklärung wurde raunend quittiert. Nicht alle waren damit einig. Das Verlangen, wenigstens im Kleinen möge die Geschichte ein gutes Ende erfahren, ist zu groß.
Der Film "Überlebende" wird am Donnerstag, 8. Mai um 20 Uhr erneut im Leonberger Filmforum gezeigt