Den Mund aufmachen und Verantwortung tragen
von Steffen Eigner
Elisabeth Hartnagel pflegt das geistige Erbe ihrer Schwester Sophie Scholl
Leonberger Kreiszeitung, 29. Januar 2007
Leonberg. So viele Besucher haben aus dem Briefwechsel von Sophie Scholl und Fritz Hartnagel hören wollen: Nicht wie geplant im Stadtmuseum, sondern in der Stadtkirche berichtete daher Elisabeth Hartnagel vom Wirken ihrer Schwester, ihres Bruders und ihres Mannes.
Es war ein erschütterndes Zeugnis, das Elisabeth Hartnagel vor schätzungsweise 150 Gästen ablegte. In der Stadtkirche war es trotz der vielen Besucher absolut still, während sie erzählte. Am 18. Februar 1943 waren ihre Schwester Sophie und ihr Bruder Hans gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Widerstandsgruppe Weiße Rose verhaftet, vom Volksgerichtshof der Nazis verurteilt und bereits am 22. Februar mit dem Fallbeil in München hingerichtet worden. 21 und 25 Jahre waren die beiden damals alt. Die Eltern der Geschwister Scholl hatten sich damals an den Kontrollen vorbei in den Gerichtssaal geschmuggelt.
In der Leonberger Stadtkirche berichtete Elisabeth Hartnagel von dem Geschrei des vorsitzenden Richters Roland Freisler, der die Angeklagten nicht zu Wort kommen ließ; von dem bestellten Verteidiger, der die Todesstrafe als gerechtes Urteil bezeichnete; von dem Versuch ihres Bruders Hans, die Hauptverantwortung auf sich zu nehmen, um seinen Mitstreitern das Leben zu retten. Schließlich seien ihre Eltern aufgesprungen, um selbst das Wort für ihre Kinder zu ergreifen. Vergeblich.
Der Versuch von Sophie Scholls Freund Fritz Hartnagel, ein in Stalingrad verwundeter Offizier, ein Gnadengesuch einzureichen, kam ebenso zu spät. Das Urteil war bereits vollstreckt worden, während Hartnagel trotz seiner Verletzungen das Lazarett verließ, um nach Berlin zu reisen. Nach dem Krieg führte die gemeinsame Trauer um Sophie Scholl ihn und Sophies Schwester Elisabeth zusammen, beide heirateten im November 1945.
Dabei hatte alles so schön begonnen. Die Geschwister Scholl waren in einem kleinen Ort bei Ulm aufgewachsen. "Politik spielte sich dort nur in der Kommunalpolitik ab. Von politischen Parteien wussten wir nichts", erzählte Elisabeth Hartnagel. Als die Nazis an die Macht kamen, seien sie zuerst selbst begeistert und alle Jungmädelführer gewesen. Mit den Jahren habe sich das geändert: "Als wir merkten, was alles verboten ist."
Die Briefe, die sich Fritz Hartnagel und Sophie Scholl schrieben, während er an der Front in Frankreich und Russland war, sie in Ulm zur Schule ging und später in München studierte, sind ein Zeugnis dessen, wie sich die Abscheu Scholls vor dem Krieg und dem Naziregime entwickelte. Lucia Cuccurollo und Matthias Ansel, beide Schauspieler der "bühne 16" lasen einige der Briefe von 1940 und von Januar und Februar 1943 vor. Die Besucher in der Stadtkirche spürten, wie die anfänglichen Beschreibungen von Idylle in der Natur immer mehr philosophischen Betrachtungen wichen - wenn auch verhalten, denn beide waren sich bewusst, dass die Briefe zensiert werden könnten.
"Die Deutschen waren keine Mitläufer, sie waren alle Nazis. So habe ich es damals empfunden. Und nach Kriegsende gab es plötzlich keine Nazis mehr", sagte Hartnagel kopfschüttelnd. "Rechtzeitig den Mund aufmachen", das sei das Vermächtnis der Weißen Rose. "Jeder Einzelne ist verantwortlich, was mit den Mitmenschen und mit der Welt geschieht. Man darf die Verantwortung nicht auf die Politiker abschieben", verlangte Elisabeth Hartnagel.
Gemeinsam mit ihrem Mann setzte sie die Idee der Weißen Rose fort, auch nach dem gewaltsamen Tod deren Mitglieder Hans und Sophie Scholl, deren Kommilitonen Christoph Probst, Willi Graf und Alexander Schmorell sowie dem Universitätsprofessor Kurt Huber.
Fritz Hartnagel, einst überzeugter Offizier und Soldat, studierte nach dem Krieg Jura und wurde zum Pazifist. Über Jahrzehnte kämpfte er gegen die Politik der atomaren Abschreckung während des Kalten Krieges, organisierte Friedensmärsche, unterstützte Wehrdienstverweigerer. "Unter der Regierung Adenauer sind die alten NS-Eliten wieder zum Zuge gekommen", sagte Klaus Beer, ein langjähriger politischer Weggefährte Hartnagels. "Dass ehemalige hohe Offiziere Hitlers nun die Rekruten der Bundeswehr ausbildeten, war völlig unangebracht", so Beer: "Die Bundesrepublik war ein Bremsklotz gegen die Entspannung."
Fritz Hartnagel war zuletzt vorsitzender Richter am Landgericht Stuttgart. Er starb am 29. April 2001 im Alter von 84 Jahren.