Die Ärzte zeigten die "Kranken" an

von Marius Venturini
In der Veranstaltungsreihe der Gedenkstätteninitiative hat Klaus Beer über den NS-Rassenwahn berichtet.
Leonberger Kreiszeitung, 20. Oktober 2010

Das Thema, über das der pensionierte Richter Klaus Beer referiert, ist auch heute noch - in Zeiten von Thilo Sarrazins Thesen - aktuell. Dies stellt Klaus Beer gleich zu Beginn seines anderthalbstündigen Vortrags im Haus der Begegnung fest. „Um das Wort ,Judengen’ zu relativieren, hat Sarrazin erklärt, dass er damit meint, die Juden seien besonders begabt und geschickt. Genau ein solcher Jude war das Hassbild der Nazis“, sagt er.

Der Menschenzüchtungswahn der Nazis hatte seine Wurzeln aber bereits lange vor der Schreckensherrschaft des NS-Regimes, weiß Beer. Massenhaft aufkommendes Elend zu Zeiten der Industrialisierung und Wirtschaftskrisen im neu gegründeten Kaiserreich hätten auch Friedrich Nietzsche zu Äußerungen bewegt wie: „Das Aussterben vieler Arten von Menschen ist ebenso wünschenswert wie irgendeine Fortpflanzung.“ Interessant dabei: Menschenzüchtungsutopien seien ausschließlich aus der Oberschicht entsprungen.

Im Deutschland zu Zeiten des Ersten Weltkriegs stand dieser Züchtungsgedanke zunächst hinten an - aus einem einfachen Grund: Damals habe es gegolten, Massen an Soldaten auf das Schlachtfeld schicken zu können. „Das Motto hieß: Das Schießen kann man auch noch dem Dümmsten beibringen“, sagt Klaus Beer. Nach Kriegsende sei die Eugenik (was so viel heißt wie „Rassenhygiene“) wieder ins Blickfeld der Bevölkerung gerückt - ohne nennenswerte Widerstände. Bereits zuvor existierten Register für „Schwachsinnige“ oder eine Kartei der „Minderwertigen“. „Die Nazis fanden also quasi ein gemähtes Wiesle vor, um ihre Rassenpolitik durchzusetzen“, so Beer.

1932 geboren, berichtet der gebürtige Hamburger auch von eigenen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Bei der Musterung für die Hitlerjugend kam er im Alter von zehn Jahren mit dem Züchtungswahn der Nationalsozialisten in Kontakt. „An der Wand der Turnhalle stand damals ,Du bist nichts, dein Volk ist alles’“, erzählt er. Hintergrund: Diagnostizierten die Ärzte bei einem Menschen eine sogenannte Erbkrankheit, galt es offiziell als ehrenhaft, keine Kinder zu zeugen. Andersherum galt es als verwerflich, als gesunder Mensch keine Kinder in die Welt zu setzen.

Die Definitionen für eine „Erbkrankheitsdiagnose“ waren Beer zufolge nach heutiger Lesart geradezu lächerlich. Lücken in der Allgemeinbildung, eine Rechen- oder Leseschwäche zogen zum Beispiel eine Zwangssterilisierung nach sich. „Die NS-Ärzte waren verpflichtet, auffällige Menschen unverzüglich anzuzeigen“, sagt Klaus Beer. Auch sein Vetter wurde Opfer dieser perfiden Machenschaften. Und als ob diese Tatsache nicht schon schlimm genug wäre, folgte in der Nachkriegszeit ein weiterer Schlag ins Gesicht der Opfer und Angehörigen. „Die Ärzte, die damals darin verwickelt waren, praktizierten alle bis in die 60er Jahre weiter“, berichtet Klaus Beer.

Wie auch jener Mediziner, der seinen Cousin einst zur Zwangssterilisation gebracht hatte. Er habe später behauptet, von nichts gewusst zu haben und sei nie zur Rechenschaft gezogen worden.

Termine: Am Samstag, 23. Oktober, findet eine Fahrt zur Gedenkstätte Grafeneck statt. Treffpunkt ist um 13.00 Uhr am Parkplatz Neues Rathaus. Am Sonntag, 24. Oktober gibt es in der Stadtkirche um 10 Uhr einen Gottesdienst zum Gedenken an die Leonberger Euthanasieopfer.


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