Die Opfer bekommen einen Namen

von Rainer Enke
Die Theatergruppe Kandel hat in der Versöhnungskirche an das Euthanasieprogramm der Nazis erinnert.
Leonberger Kreiszeitung, 12. November 2010

Das Wort Euthanasie ist aus dem Griechischen abgeleitet, und bedeutet „Guter Tod“. Diesen Begriff deuteten die Nationalsozialisten auf verbrecherische Weise um und benannten damit den Massenmord an geistig behinderten und psychisch kranken Menschen, der vor 70 Jahren im Januar 1940 begann.

Unter den Opfern waren 19 Männer und Frauen aus Leonberg, Eltingen und Höfingen. An sie und alle anderen Opfer erinnerte die Leonberger Theatergruppe Kandel am Mittwochabend mit der szenischen Lesung „Erinnern statt vergessen - nie wieder Euthanasie“ in der Versöhnungskirche im Ramtel. Seit etwa 30 Jahren besteht die Theatergruppe Kandel mit derzeit elf erwachsenen Mitgliedern, die sich seitdem mit der Regisseurin und Schauspielerin Katja Kandel, die früher am Theater im Zentrum in Stuttgart wirkte, regelmäßig zu Improvisations-Theaterworkshops trifft.

Sie verarbeiten verschiedenste Themen in Texte und szenische Aktionen. Meistens sind es kleine Stücke, die gelegentlich auch zu privaten Anlässen vorbereitet und aufgeführt werden.

Die Lesung in der Versöhnungskirche bildet den Abschluss der Gedenkausstellung für die 19 Euthanasieopfer aus Leonberg, Eltingen und Höfingen der evangelischen Erwachsenenbildung, der Volkshochschule und der KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg. Diese [Ergänze: Die Theatergruppe Kandel] hat seit dem Jahr 2000 Fakten aus überlieferten Dokumenten über die Auslöschung „unwerten Lebens“ zusammengetragen.

Dazu fließen der weltanschauliche Hintergrund, die Eugenik-Diskussion der zwanziger Jahre, die Zwangssterilisation seit 1933 und Beispiele des Widerstandes mit ein, schließlich auch die zögerliche Aufklärung und Bestrafung der Täter durch die Verstrickungsjustiz im Nachkriegsdeutschland. Eindrucksvoll hat dies alles Katja Kandel dramaturgisch in Szene gesetzt.
Allein im Zeitraum bis Dezember 1940 wurden in Südwestdeutschland 10.654 Menschen aus Heil- und Pflegeanstalten abgeholt und in Grafeneck bei Münsingen in Gaskammern ermordet. Bis 1941 ging das systematische Morden in Hadamar bei Limburg und in Zwiefalten weiter, danach wurde es bis 1945 "dezentral organisiert".

Zwei Sprecher rechts und links der Bühne führen in 13 Themenblöcken in der historischen Abfolge durch diese grausame Zeit. Dies beginnt mit dem Verlesen der Namen und der Altersangabe der hiesigen Opfer. Schon hier stellt sich Beklommenheit ein, weil diese Menschen einen Namen haben, so aus der Anonymität entlassen werden. Die Mitspieler stehen beim Sprechen auf, stehen sich im Dialog gegenüber, machen Situationen stimmlich und gestisch präsent. Es wird mit Leidenschaft aus Briefen Angehöriger zitiert, Protokolle des Verbrechens werden emotionslos vorgetragen, Befehle trocken zitiert.

Thematisiert wird die Verstrickung der Ärzteschaft, untersucht das Handeln der Kirchen in jener Zeit, beeindruckende Beispiele des lebensgefährlichen und mutigen Widerstandes Einzelner geben Zeugnis, der nicht zu überbietende grausame Zynismus der Naziregimes wird schonungslos offen gelegt. Eine Aufführung, die durch ihre Schlichtheit beeindruckend gewesen ist, nachdenkliches und betroffenes Schweigen in der Versöhnungskirche hinterließ.


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