Dokumente des Terrors und des menschlichen Leides
von Arnold Einholz
Die KZ-Gedenkstätteninitiative in Leonberg eröffnet eine Dokumentationsstätte über das ehemalige Arbeitslager im alten Engelbergtunnel
Leonberger Kreiszeitung, 26. Juni 2008
Leonberg. Eine Dokumentationsstätte über das ehemalige KZ Leonberg wird am Sonntag im alten Engelbergtunnel eröffnet. Für die Männer, die hier unter Zwang arbeiten mussten, ist es eine schmerzvolle Rückkehr an den Ort ihres Leidens.
Die Ausstellung im alten Tunnel veranschaulicht den ideologischen, politischen und militärischen Hintergrund für die Errichtung des Leonberger KZ und die Verlagerung der Messerschmitt-Produktion im letzten Kriegsjahr. Aber auch die konkrete Geschichte des KZ Leonberg und der Häftlinge, ihr Alltag, die Todesmärsche und Befreiung sowie die juristische Verfolgung der Verantwortlichen in der Nachkriegszeit wird dargestellt.
Das künftige Dokumentationszentrum ergänzt den bereits 2001 ausgeschilderten "Weg der Erinnerung" entlang der Seestraße, die 2005 errichtete Namenswand und einen im Bereich des Samariterstifts vorhandenen Gedenkstättenraum. Konzipiert und realisiert hat die Dokumentationsstelle das Büro "Braun Engels Gestaltung" aus Ulm, das bereits das Dokumentationszentrum der KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg in Ulm gestaltet hat und zurzeit die Ausstellung der Dokumentationsstätte "Topographie des Terrors" in Berlin entwirft. Die Bilder und Texte für die Dokumentationsstätte ausgewählt haben von der Leonberger KZ-Gedenkstätteninitiative Holger Korsten und Eberhard Röhm.
Alle ehemaligen Häftlinge und deren Angehörige, zu denen die KZ-Gedenkstätteninitiative Kontakt hat, wurden eingeladen. Von den noch lebenden 24 ehemaligen KZ-Häftlingen, haben sechs ihr Kommen zugesagt: Avraham Ary, Leo Finkelstein und Mordechai Nojovits (alle drei aus Israel), Giuseppe Covacich aus Italien sowie Michail Soljanik und Aleksej Tkatschuk, beide aus der Ukraine. Von den noch drei lebenden Gestapo-Häftlingen kommt Ab Boerma aus Holland.
Die Dokumentationsstätte wird vor allem finanziert mit Mitteln der Europäischen Kommission aus Brüssel, sowie durch Spenden der Berthold Leibinger Stiftung, Ditzingen, der European Aeronautic Defence and Space Company, München und der Robert Bosch GmbH, Stuttgart. Auch die Einladungen ehemaliger Häftlinge und ihrer Angehörigen sowie die Feierlichkeit der Ausstellungseröffnung haben viele Einzelspenden und Zuwendungen von Sponsoren möglich gemacht.
Avraham Ary, geboren 1928 in Bialystok (Polen), lebt heute in Israel. Avraham Ary gehörte in seiner Heimat einer zionistischen Jugendgruppe an. Im Juni 1941 wurde seine Familie für zwei Jahre in das neu errichtete Ghetto von Bialystok gepresst. Nach dessen Räumung im Sommer 1943 wurden seine Mutter und seine beiden Brüder in das Vernichtungslager Treblinka deportiert. Avraham Ary kam zusammen mit seinem Vater in das Zwangsarbeitslager Blizyn. Dieses wurde später in ein KZ-Außenlager umgewandelt. Am 31. Juli 1944, wurde er nach Auschwitz deportiert. Dort wurde sein Vater ermordet. In Auschwitz war Avraham Ary, 16-jährig, zeitweise in einer Kinderbaracke zu medizinischen Versuchen, später beim Müllkommando. Im Dezember 1944 wurde Avraham Ary nach Leonberg verschleppt. Im April überlebte er den Todesmarsch in Richtung Bayern. Nach der Befreiung kam er nach Italien und ließ sich zum Matrosen ausbilden. Kurz nach der israelischen Staatsgründung wurde er dort Marinesoldat.
Leo Finkelstein wurde 1923 in Radom (Polen) geboren. Am 7. April 1941 wurden alle Juden Radoms in ein Ghetto innerhalb der Stadt gezwungen. Nach und nach wurden junge Männer in bewachte Arbeitslager in der Nähe von Radom geholt, wo sie für die Kriegsindustrie arbeiten mussten. So kam Leo Finkelstein von März 1943 bis Juni 1943 in das Arbeitslager Wilanow und am 31. Juli nach Auschwitz. Im selben Transport war auch Avraham Ary. Im Anschluss war Leo Finkelstein fünf Monate lang im KZ Auschwitz. Es folgten Aufenthalte in die Konzentrationslager Groß-Rosen und Flossenbürg. Am 16. März 1945 kam Leo Finkelstein mit weiteren 1000 Häftlingen nach Leonberg. Man hatte in Flossenbürg Schlosser gesucht und so meldete er sich, obwohl nicht dazu ausgebildet, in der Hoffnung Flossenbürg entkommen zu können. In Leonberg folgte er dem Rat eines Jugendfreundes aus Radom und meldete sich krank, und so kam er nie in den Tunnel. Wie alle Häftlinge nahm Finkelstein im April am Todesmarsch nach Bayern teil. Vom Zielort Mühldorf folgte abermals eine Todesfahrt in einem bewachten Güterzug bis die Häftlinge von US-Soldaten in der Gegend des Starnberger Sees befreit wurden.
Giuseppe Covacich, am 20. Juni 1925 geboren, wurde am 1. März 1944 als Slowene in seiner Heimatstadt Triest von der faschistischen politischen Polizei Italiens verhaftet. Mutter und Schwester wurden nach Auschwitz deportiert. Er und sein Vater kamen über Dachau nach Leonberg, wo beide bis April 1945 im Tunnel zu arbeiten hatten. Covacich erinnert sich an Schläge, die sie bei angeblicher Sabotage bei der Arbeit bekommen haben und an die Exekution eines russischen Offiziers. Sowohl seine Mutter als auch seine Schwester überlebten. Auch Guiseppe Covacich und sein Vater konnten nach der Befreiung durch US-Soldaten in Bayern nach Triest zurückkehren.
Mordechai Nojovits wurde 1925 in Borsa (Nordsiebenbürgen/Rumänien) geboren. Im Frühjahr 1944 wurde die Familie mit den andern Juden in ein neu eingerichtetes Ghetto gezwungen. Ende Mai erfolgte der Transport nach Auschwitz. Auf der Rampe in Birkenau wurde die Familie getrennt. Die Brüder Joseph Benjamin und Moshe wie die Schwester Lea und seine Mutter Miriam wurden sofort vergast. Die Schwester Elsi und Mordechai kamen zu Arbeitskommandos und überlebten wie auch der Bruder Itzhak. Bei Auflösung des KZ Auschwitz wurde Mordechai Nojovits am 18. Januar 1945 zusammen mit etwa 50 000 Häftlingen auf einen 200 Kilometer langen Fußmarsch getrieben. Über die KZ Groß-Rosen, Sachsenhausen und Flossenbürg kam Nojovits im März 1945 nach Leonberg. Er überlebte die Evakuierung von Leonberg nach Mühldorf und anschließend eine Irrfahrt im Güterzug durch Bayern. Die endete am 30. April 1945 am Starnberger See, wo die Häftlinge von den Amerikanern befreit wurden. Er schloss sich der religiös-zionistischen Jugendorganisation Bnei Akiva an und konnte Ende 1947 nach Palästina (Israel) einwandern.
Aleksej Andrejewitsch Tkatschuk, geboren am 23. Mai 1925, wohnt heute in Winniza/Ukraine. Tkatschuk kam im Juli 1944 mit einem Transport von Sachsenhausen nach Leonberg. Er hatte hier verschiedene Tätigkeiten meist in Außenkommandos, so war er eingesetzt bei der Befestigung einer Flakstellung und beim Ausbau eines Luftschutzstollens. Er erinnert sich noch gut, wie er nach dem Bombenangriff auf Leonberg am 1. März 1945 in der Graf-Eberhard-Straße die Keller der zerstörten Weinhandlung Schmalzriedt ausräumen musste. Häufig wurde er auch beim Transportkommando eingesetzt. Kurz vor Auflösung des Lagers im April 1945 befürchteten die Häftlinge, dass man sie in den Tunnel sperren würde und bei der Sprengung des Tunnels töten wollte. Für Aleksej Tkatschuk folgten fünf Jahre Dienst in der Sowjetarmee.
Heute ist er noch aktiv als stellvertretender Vorsitzender einer Vereinigung ehemaliger KZ-Häftlinge. Michail Antonowitsch Soljanik, geboren am 19. Februar 1923, lebt in Scherkasskaja, einem kleinen Dorf östlich von Kiew (Ukraine). Er war von allen am längsten im KZ Leonberg. Er kam bereits im Jahr 1942 als Ostarbeiter nach Deutschland. Er floh irgendwann, wurde in ein Straflager bei Nürnberg gesteckt und kam und schließlich ins Stammlager Natzweiler-Struthof.
Im April 1944 wurde er über Dachau nach Leonberg verlegt. Er gehörte also zum allerersten Transport. In Leonberg versuchte er zu fliehen, wurde gefasst und landete wieder in Leonberg. Soljanik arbeitete kontinuierlich im Tunnel. Er hatte die Landeklappen des Tragflügels zu nieten. Nach der Befreiung durch US-Soldaten wurde er bis 1947 gezwungen, in der Sowjetarmee Dienst zu tun. Unter dem haltlosen Verdacht ein Kollaborateur der Deutschen gewesen zu sein, wurde er 1949 in ein Straflager nach Workuta gesteckt und erst nach Stalins Tod 1953 rehabilitiert.
Ab Boerma, Jahrgang 1922, gehörte zu den 180 Gestapo-Häftlingen, die am 1. Juli 1944 nach Leonberg in die sogenannte Kaserne gebracht wurden. Aus politischen Gründen nach Deutschland verschleppt wurde Ab Boerma im Dienst der Baufirma Dykerhoff & Widmann beim Ausbau des Engelbergtunnels zur Messerschmitt-Fabrik eingesetzt. Er erlebte schließlich auch nach Ausbruch der Typhusepidemie die wochenlange Quarantäne im Dachgeschoss der Kaserne. Neun Holländer waren der schweren Krankheit Anfang 1945 zum Opfer gefallen. Im Herbst des Jahres 1956 war Ab Boerma zum ersten Mal wieder nach Leonberg zurückgekehrt und verfasste nach seiner Rückkehr in seiner Heimatzeitung einen bemerkenswerten Bericht über seinen Aufenthalt in Leonberg ein Jahrzehnt zuvor. Der heute 86-Jährige wird zum ersten Mal mit den Mitgliedern der KZ-Gedenkstätteninitiative zusammentreffen.
Die ausländischen Gäste werden am Samstag, 28. Juni, um 17 Uhr offiziell von der Stadt Leonberg im Haus der Begegnung empfangen. Am Sonntag, 29. Juni, findet um 11.15 Uhr die feierliche Eröffnung der KZ-Dokumentationsstätte im alten Engelbergtunnel statt.