Ein bewegender Moment vor dem Tunnel
von Nathalie Mainka
Ehemalige KZ-Häftlinge in Leonberg
Leonberger Kreiszeitung, 15. September 2007
Leonberg. Erstmals seit ihrer Befreiung aus dem Konzentrationslager kehren die Ukrainer Aleksej Andrejewitsch Tkatschuk und Michail Antonowitsch Soljanik nach Leonberg zurück. Über die Einladung haben sie sich gefreut. Gefühle wie Hass oder Abneigung sind ihnen fremd.
Das Essen vor ihm auf dem Tisch ist längst kalt geworden. "Nein, ich habe gar keinen Hunger mehr. Die Erinnerungen sind wieder so präsent, ich möchte lieber weitererzählen", sagt der 84 Jahre alte Michail Antonowitsch Soljanik. Ergreifend schildert er seine Flucht aus dem Leonberger Konzentrationslager vom 20. auf den 21. Mai 1944. Dunkel ist es in dieser Samstagnacht während des Fliegeralarms gewesen. Diesen Augenblick hatte der Häftling genutzt, um mit einer Schere ein Loch in den Stacheldrahtzaun zu schneiden. Dann ist er einfach nur den Berg hochgelaufen. So weit er konnte. Immer nur gelaufen. "Ich hatte das wunderbare Gefühl, frei zu sein", sagt er und kann sich an jedes Detail dieser Flucht erinnern. An die Nacht im Wald, als er sich mit Blättern zudeckte und schlief. An die beiden Männer, vor denen er sich versteckte. An den furchtbaren Hunger, den er verspürte.
Am Montag nach seiner Flucht kam er in ein kleines Dorf. Dort schlich er sich in eine Gartenlaube. Der Besitzer dieser Laube fand ihn, nahm ihn mit nach Hause zu seiner Familie. Der Ukrainer hat das Bild von der Mutter, der 12-jährigen Tochter und der Großmutter genau vor Augen. "Ich würde gerne wissen, welches Dorf das war und wie die Familie heißt, die mir zu essen gegeben hat." Doch die Freiheit von Soljanik sollte nur von kurzer Dauer sein. Gegen den Willen von Mutter und Tochter hatte der Herr des Hauses den Häftling bei der Polizei gemeldet. In Handschellen wurde er abgeführt.
Für Eberhard Röhm, Vorsitzender der Leonberger Gedenkstätteninitiative, ist es ein Glücksfall, dass er die beiden Herren gefunden hat. Da drei Namensbücher ehemaliger Leonberger KZ-Häftlinge verschollen sind, ist seine Liste nicht komplett. Der Kontakt kam jetzt über das Maximilian-Kolbe-Werk in Mosbach zustande. Dort genießen derzeit 14 ukrainische KZ-Überlebende einen Erholungsurlaub. Eberhard Röhm forschte nach und kombinierte, dass Aleksej Andrejewitsch Tkatschuk aus Winniza damals die Häftlingsnummer 19945 gehabt haben musste. Als er und Kulturamtsleiterin Christina Ossowski, die das Gespräch übersetzte, gestern den Gast aus Mosbach abholen wollten, erfuhren sie durch Zufall, dass auch Michail Antonowitsch Soljanik damals in Leonberg inhaftiert war. Also luden sie ihn mit nach Leonberg ein. Gemeinsam besichtigten sie den Weg der Erinnerung und den Engelbergtunnel.
Ein bewegender Moment für beide Männer. Sie sind tief gerührt. Tränen stehen in ihren Augen. Soljanik findet seinen Namen auf der Gedenktafel. Der von Tkatschuk wird nachgetragen. Und dann fängt auch der 82-Jährige an, ganz präzise seine lange Geschichte zu erzählen. Er war in einem Außenkommando von Leonberg. Er und seine Leidensgenossen haben unter anderem den Luftschutzstollen in der Stuttgarter Straße gebaut. Sie mussten die Trümmer nach einem Bombenangriff wegräumen. Er erinnert sich an einen zerstörten Juwelierladen mitten in der Stadt, von dem nur noch der Keller übrig geblieben war.
Einzelne Mosaiksteinchen fügen sich nach und nach zu einem Bild zusammen. Trotz dieser schlimmen Erinnerungen sind die beiden Ukrainer gerne nach Leonberg gekommen. "Wir freuen uns mit ganzem Herzen, dass sich Deutschland so schön entwickelt hat", sagt Aleksej Andrejewitsch Tkatschuk. Mit diesen Eindrücken werden sie in ihre Heimat zurückkehren.
Hinweis:
- Bei den drei verloren gegangenen Nummernbücher handelt es sich um die von der Kommandantur des KZ-Hauptlagers Natzweiler angelegten Bücher, in die die Tranporte aller Natzweiler Außenlager eingetragen wurden. Drei der ursprünglich sechs Bücher sind erhalten.
- Aleksej Tkatschuk war bei der Beseitigung der Trümmer des bei einem Fliegerangriff am Nachmittag des 1. März 1945 total zerstörten Hauses des Juwelier-, Uhren- und Optikergeschäfts Zerweck in der Graf-Eberhard-Straße eingesetzt worden. Eberhard Röhm