Ein früherer Zwangsarbeiter umarmt die ganze Welt

von Barbara Bross-Winkler
Gut besuchte Lesung in der Stadtbücherei: "Unterwegs zwischen Nikolajew und Leonberg"
Leonberger Kreiszeitung, 18. Juli 2007

Leonberg. Mit einem Büchlein über sein Leben hat der frühere Zwangsarbeiter Pjotr Kudrjaschow ein wichtiges und schweres Kapitel in seinem Leben "buchstäblich" abgeschlossen. Die Broschüre ist am Montagabend in der Leonberger Bücherei vorgestellt worden.

Immer noch bekommt der Ukrainer Pjotr Wassiljewitsch Kudrjaschow Tränen in die Augen, wenn er oder jemand anders über seine "zweite Mutter" spricht. Und das hat er in den vergangenen Jahren oft getan, denn seit 1991 ist der frühere Zwangsarbeiter mit der Nummer 1130 immer wieder in das Land seiner früheren Leiden zurückgekehrt. Wahrscheinlich hätte er diesen Wunsch nie gehabt ohne seine "zweite Mutter", die Gerlingerin Elisabeth Dommes. Und so ist auch jenes Kapitel besonders anrührend, in dem der ukrainische Arzt seine erste Begegnung mit der Frau "mit den edlen Gesichtszügen" beschreibt, die er als seine Lebensretterin betrachtet, weil sie ihn, als er einmal Ausgang hatte, bei sich im Garten arbeiten und essen ließ, weil er sich bei ihr zum ersten Mal nach zwei Jahren ausgiebig waschen konnte und, vor allem, weil er bei ihr jene Menschlichkeit spürte, die er als "Untermensch" aus dem Osten im Lager zu häufig entbehren musste.

Vielen Gerlingern und vielen Leonbergern ist der frühere Zwangsarbeiter seit Jahren ein lieb gewordener Gast und so ist es nicht wirklich erstaunlich, dass selbst an diesem schwülen Abend in der Bücherei die aufgestellten Stuhlreihen erweitert werden müssen. "Unterwegs zwischen Nikolajew und Leonberg" hat der frühere "Ostarbeiter" seine von der KZ-Gedenkstätteninitiative herausgegebene kurze Autobiografie betitelt. Aus ihr liest Peter Höfer einige eindrucksvolle Passagen, während Christina Ossowski, die Leonberger Kulturamtsleiterin, und Eberhard Röhm, der Vorsitzende der KZ-Gedenkstätteninitiative, die nicht gelesenen Stellen kurz zusammenfassen und erläutern.

Was Pjotr Kudrjaschow bei seinen an die zehn Besuchen in Leonberg bei zahlreichen offiziellen und noch mehr privaten Begegnungen, was er Schulklassen und Gottesdienstbesuchern in vielen Gesprächen manchmal bruchstückhaft erzählt hat, hat er vor zwei Jahren, wieder einmal zu Gast bei der Leonbergerin Ursula Beutelspacher, begonnen aufzuschreiben. Mit der Oktoberrevolution von 1917 und einer liebevollen Beschreibung seiner Vorfahren beginnt Pjotr Kudrjaschow seinen Lebensbericht. Erstaunt vernehmen die Zuhörer, dass Pjotr Kudrjaschows Großmutter nicht in die kirchliche Grundschule durfte, weil immer nur zwei Kinder aus einer Familie aufgenommen wurden, und schmunzelnd lauschen sie der amüsanten Schilderung über die Vorzüge seines Vaters.

Umso betroffener lassen dann jene Passagen das Publikum zurück, in denen beschrieben wird, wie die Jahrgänge 1926 und 1927 während der Zeit der deutschen Besatzung in der Ukraine wie Vieh nach Deutschland getrieben wurden. Mit vielen anderen aus seiner Heimat musste Pjotr Kudrjaschow, immer hungrig und ständig von Wanzen und Läusen gequält, zunächst bei Wuppertal Straßen freiräumen, Fabrikhallen säubern und Güterwagons entladen, bevor er im Mai 1944 nach Leonberg kam. Hier musste er mit vielen anderen Ostarbeitern eine Wasserleitung Richtung Engelbergtunnel bauen. Denn dort ließ die Firma Messerschmitt Tragflächen für das Düsenflugzeug Me 262 von anderen Zwangsarbeitern herstellen.

In kurzen Kapiteln beschreibt der Autor, dessen Lebensgeschichte von Maria Davydchyk und Christina Ossowski ins Deutsche übersetzt worden ist, wie er das Ende des Krieges bei Familie Dommes in der Gerlinger Seifertstraße erlebte. Er schreibt über den langjährigen Weg zurück in sein Heimatdorf, sein Medizinstudium, seine Familie, die jahrzehntelangen Versuche, seiner zweiten Mutter, Elisabeth Dommes, zu schreiben und schließlich das Wiedersehen mit ihr.

In rührenden Worten bedankt sich nach der Lesung der 80 Jahre alte Autor beim Publikum. "Ich umarme die ganze Welt. Nach dem Krieg habe ich in Deutschland so viel herzliche Menschen getroffen." Sie alle lädt er ein, ihn in Nikolajew, in der Uliza Tschaikowskogo 2/10 zu besuchen, wo er sie mit Pfirsichen, Melonen und Trauben von der Datscha bewirten werde. Eine Zuhörerin fasst zusammen, was wohl viele nach seiner kurzen Ansprache beschämt gefühlt haben: "Wir sollten uns bei Ihnen bedanken, dass Sie noch zu uns kommen nach allem, was man Ihnen hier angetan hat."

Das mit vielen historischen Fotos versehene 72 Seiten umfassende Büchlein "Unterwegs zwischen Nikolajew und Leonberg", das auch dank Zuschüssen von der Stadt Leonberg und der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg entstehen konnte, wird im Leonberger Stadtmuseum für 2 Euro verkauft.


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