Eingeschlossen ins Gewaltsystem des KZ
von Martin Reinkowski
Als Flakhelfer vor den Toren von Auschwitz: ein ehemaliger Leonberger Schüler berichtet
Stuttgarter Zeitung, 31. Januar 2005
LEONBERG. Sie dachten, eine kriegswichtige Industrie zu verteidigen, und lagen im Schatten des größten NS-Vernichtungslagers: 16-jährige Flakhelfer, einer davon aus Leonberg. Konrad Plieninger erzählt, dass die Jugendlichen am Ende ahnten, was in Auschwitz vor sich ging.
"Es lässt sich hier noch verhältnismäßig gut leben", schrieb ein Flakhelfer am 2. August 1944 nach Hause. "An diesem Tag sind im Vernichtungslager 3646 Juden und Zigeuner in den Gaskammern ermordet worden", berichtete Konrad Plieninger gestern vor rund hundert Zuhörern in der Leonberger Stadtkirche. Plieninger, Sohn des damaligen Leonberger Dekans, war als 16-Jähriger in einer Flakbatterie eingesetzt, nur ein paar Kilometer von Auschwitz entfernt. Über seine Erlebnisse vom Sommer 1944 bis zur Befreiung des Vernichtungslagers im Januar 1945 hat Plieninger bereits in einem Buch berichtet, gestern ging er bei einer Veranstaltung der KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg auf die Frage der Mitschuld ein.
Plieningers Fazit: Weil er der menschenverachtenden Behandlung halb verhungerter und todkranker KZ-Häftlinge, die in den Batterien schwere Erdarbeiten verrichten mussten, ohne Widerspruch zugesehen hatte, sei er "in das Gewaltsystem des KZ eingeschlossen" gewesen. "Das ist nicht wegzudiskutieren", sagt der 76-Jährige, der nach der Nazizeit Geschichte studierte und später viele Jahre an der Pädagogischen Hochschule in Esslingen Gymnasiallehrer ausgebildet hat.
Der Leonberger Schüler war zum Schutz eines Hydrierwerks in der Nähe des Lagers abkommandiert, in dem Flugbenzin gewonnen werden sollte. Er war überzeugt von seinem Einsatz "an des Reiches Ostgrenze", wie das damals hieß. Als sein Vater, der über internationale Kirchenkontakte wohl über den Zweck des Lagers Bescheid wusste, seine Versetzung erreichen wollte, wehrte er sich. Noch Mitte Januar, zwei Wochen vor der Eroberung des KZ durch russische Truppen, zeigte sich Plieninger bei einem Urlaub auf den Leonberger Straßen stolz in Uniform.
Natürlich hätten sie vom KZ bald erfahren. Aber man sagte ihnen, dass dort Verbrecher, Faule und Asoziale verwahrt würden, "und das schien uns nicht so schlimm zu sein" - die Jugendlichen waren von der NS-Propaganda geprägt. Während des halben Jahres bekamen die Flakhelfer doch eine Ahnung davon, was "im inneren Kreis der Hölle" geschah. Heute weiß Plieninger, dass in Auschwitz industriemäßig Juden, Zigeuner, Polen und andere ermordet wurden, dass das Hydrierwerk nie in Betrieb ging, dass er ein "Wahngebilde" verteidigt hatte, gleichzeitig zum äußeren Bewachungsring des Vernichtungslagers gehörte und mitansah, wie die SS die Häftlinge zu zehntausenden gegen Geld an die Werke des IG-Farben-Konzerns am Ort verlieh.
"Der Name Birkenau war uns nur als Standort einer Flakbatterie bekannt", berichtet Plieninger. Doch er hat die 200 Juden in dem besagten Arbeitseinsatz gesehen, bei dem ein Häftling zum Schein lebendig begraben wurde; er hat die Züge gesehen mit den ausgehungerten Gesichtern in den mit Stacheldraht versperrten Luken, den unter Hochspannung stehenden Stacheldrahtzaun; er hat "irgendwie gespürt", dass hier die Intelligenz Polens vernichtet wird, den penetranten süßlichen Geruch aus dem Lager eingeatmet, gellende Schreie gehört; er hörte auch von einem schwunghaften Handel mit Goldzähnen von Menschen, die "durch den Kamin gegangen" waren, und er kannte den alles erklärenden Spruch: "Die einen arbeiten im Werk, aus den anderen machen wir Seife."
Mit Eberhard Röhm, dem Vorsitzenden der Gedenkstätteninitiative, machte Plieninger nach dem Krieg in Korntal - in Leonberg gab es kein Gymnasium - das Abitur. Erzählt hat er Röhm von seinen Erlebnissen nie. "Ich war wie gelähmt. Vielleicht hatte ich auch Angst, als Täter gebrandmarkt zu werden."
Konrad Plieninger berichtet über seine Zeit als Flakhelfer in dem Buch "Erzählt es euren Enkeln", Minner-Verlag, Kornwestheim.