Ergreifende Augenblicke des Neuanfangs
von Anja Tröster
Stuttgarter Zeitung, 26. Juni 2003
Rückblick auf KZ-Geschichte
LEONBERG. Es ist sicher eine der ergreifendsten Feiern in der Geschichte der Stadt Leonberg gewesen, als am Dienstag Abend die Ausstellung mit Bildern des ehemaligen KZ-Insassen Moshe Neufeld eröffnet wurde. Nicht zuletzt auf Grund des Filmporträts von Vaclav Reischl.
Viele Geschichten enden im Konzentrationslager. Dies ist eine Geschichte, die mit einem Konzentrationslager anfängt - dem Arbeitslager in Leonberg. Man kann zwar spekulieren, ob hier zu Lande vor allem jene Leidensgeschichten der Überlebenden offene Ohren finden, die von Versöhnung und Verständnis handeln und ein gutes Ende haben. Doch das hat mit dieser Geschichte nichts zu tun.
Diese Geschichte handelt davon, wie ein Mann nach Leonberg zurückkehrte, der diese Stadt nie wieder sehen wollte, mit einem Lächeln auf den Lippen. Und wie das, was er von sich und seinem Leben erzählt, für einen kurzen Moment die Erkenntnis in den Zuhörern aufblitzen lässt - eine Erkenntnis, die schwer in Worte zu fassen ist und die viele Zuhörer den Spitalhof mit Tränen in den Augen verlassen lässt.
Moshe Neufeld hat seine ganze Familie in Auschwitz verloren. Mehr als fünfzig Verwandte sind dort ermordet worden, darunter seine Mutter, seine 11-jährige Schwester und zuletzt sein Vater. "Hier endet das erste Kapitel meines Lebens", sagt Neufeld in dem Dokumentarfilm von Vaclav Reischl, der am Dienstagabend zum ersten Mal vor Publikum gezeigt wurde. "Ich war noch nicht einmal 18 Jahre alt." Geweint habe er nicht, sagt er. Dazu war das Entsetzen wohl zu groß. Von Auschwitz wurde er ins Leonberger Arbeitslager der Firma Messerschmitt geschickt. Zuletzt folgte ein Todesmarsch in Richtung Osten, auf der Flucht vor den Alliierten. Im Mai 1946 wurde Moshe Neufeld in Tutzing ein freier Mensch.
Er ging nach Italien, schloss sich einer Gruppe befreiter Rumänen an und kam so nach Israel, wo er den Kibbuz Barkai mitbegründete und seine Frau Sarah kennen lernte. Die Vergangenheit allerdings ließ ihn nicht los: In den Sechziger Jahren kehrte er zu einem Besuch nach Auschwitz zurück, weil er nur durch die Konfrontation mit dem Ort, an dem seine ganze Familie ausgelöscht worden war, das Grauen loswerden konnte.
Nach Leonberg kehrte Moshe Neufeld aus anderen Gründen zurück. Die Einladung der Stadt vor zwei Jahren hatte er ausgeschlagen. Stattdessen reisten seine Söhne Zwi und Odet damals zu dem ersten Treffen der ehemaligen Lager-Insassen. Sie wollten den Vater verstehen lernen, der ihnen über seine Vergangenheit so wenig erzählt hatte. Begleitet wurden sie von dem Filmemacher Vaclav Reischl, einem Tschechen, der in Stuttgart lebt. Er bat die beiden Neufelds in den Tunnel, wo sie sich, in die Kamera blickend, gemeinsam an ihren Vater wandten und von ihren Gefühlen sprachen. Es war dieser Film, der die Zuschauer mehr als alles andere überwältigte - zusammen mit den Worten des Landesrabbiners Joel Berger zeigte er, woher jene Menschen nach Leonberg kamen, die dort zu Nummern wurden, und wohin sie gingen, wenn sie das Glück hatten, zu überleben - ein Glück, das viel zu oft als Schuld empfunden wurde.
Am Ende des Films führt Moshe Neufeld den Filmer zu einem Baum mit Früchten, die er den Leonbergern anbietet. Eine Geste der Freundschaft. Malend und schreibend habe er seine Holocaust-Erfahrungen verarbeitet. Jetzt sei er mit sich im Reinen, jetzt male und schreibe er nicht mehr, sagt er in dem Film, der nicht nur vom Leid spricht, sondern auch von der Liebe. "Mein Mann hat wegen mir überlebt", sagt Moshes Frau Sarah.
Überschattet wurde die Eröffnung der Ausstellung im Stadtmuseum vom Todesfall eines Stuttgarter Übersetzers, der selbst ein Konzentrationslager überlebt hatte und der regelmäßig mit der KZ-Gedenkstätteninitiative zusammenarbeitete. Er brach am Montag Abend bei einem Begrüßungsessen für die ehemaligen Häftlinge tot zusammen.
Die Bilder Neufelds sind im Leonberger Stadtmuseum bis zum 16. November dienstags bis donnerstags von 14 bis 17 und sonntags von 13 bis 18 Uhr zu sehen.