Erinnerung an die Millionen Opfer des Holocaust
von Alexandra Wolf
Leonberger Kreiszeitung, 28. Januar 2003
LEONBERG - "Gedenken heißt für mich, an das Unsagbare zu erinnern, weil es nicht vergessen werden darf." Das sagte Eberhard Röhm, Vorsitzender der KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg, gestern vor über 60 Gästen bei seinem Vortrag im Stadtmuseum anlässlich des Holocaust-Gedenktages am heutigen 27. Januar.
Als Jugendlicher im Alter von 14 bis 15 Jahren wusste Röhm nach eigenen Aussagen nichts von den Massentötungen. Erst nach Ende des Krieges erfuhr er von dem Holocaust. Der ehemalige Pfarrer erörterte in seinem Vortrag "Alle Welt schwieg", wer vom Holocaust wissen konnte, wer darüber geredet hat und wer sich in Schweigen hüllte. "Von der Ausrottung der jüdischen Rasse geredet hat Adolf Hitler allein im Jahre 1942 in fünf Ansprachen im Radio", so Röhm. Er schilderte in seinem Vortrag, dass die Bekennende Gemeinde Berlin-Dahlem noch im November 1941 davon ausging, dass es sich bei den Deportationen der Juden um Umsiedlungsaktionen handle. Ein halbes Jahr später wurde zur Gewissheit, dass die Juden getötet wurden.
"Für viele Juden war Selbstmord der einzige Ausweg", sagte Pfarrer Röhm. Helmut Gollwitzer, damals Hilfsprediger in Berlin- Dahlem, stellte in einem Brief fest: "Der Tod, der uns vor allen Menschen rettet, ist die einzige tröstende Aussicht für die meisten geworden." Der Vorsitzende der KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg schloss daraus, dass wer sich um die Nähe zu den Opfern damals bemühte, wissen konnte, was in den Konzentrationslagern geschah.
Ein "Kronzeuge der Massenvernichtung" war für Röhm der SS-Obersturmführer Kurt Gerstein. Im Nachtzug von Warschau nach Berlin im Sommer 1942 berichtete SS-Offizier Baron Göran von Otter, Legationssekretär der schwedischen Botschaft in Berlin, von seinen Erlebnissen in den Vernichtungslagern Belzec und Treblinka. "Gerstein hatte die Idee, dass von Otter seinen Landsleuten von den Schreckenstaten berichtet. Die Schweden sollten dann die Alliierten informieren. Diese würden dann an die deutsche Bevölkerung Flugblätter verteilen, und das deutsche Volk würde sich gegen Hitler erheben", erzählte Eberhard Röhm. Doch so einfach wurden Gersteins Informationen nicht weitergeleitet.
Drei Jahre später schrieb der SS-Offizier den so genannten Gerstein-Bericht für die französische Besatzungsmacht. "Die Opfer steigen die kleine Treppe herauf - sie zögerten - aber sie treten in die Todeskammer. Wie gern wäre ich mit ihnen in die Kammern gegangen. Noch also darf ich nicht. Ich muss noch zuvor künden, was ich hier erlebe", zitierte Röhm den Bericht. Nach dem Krieg wollte Gerstein als Zeuge der Naziverbrechen vor den Alliierten auftreten. Er wurden jedoch verhaftet, weil er Mitglied der SS war. "Er starb im Juli 1945 auf rätselhafte Weise in einem Militärgefängnis in Paris", berichtete Eberhard Röhm.
Für den Widerstand gegen das Naziregime bezahlten auch Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer mit ihrem Leben. Immerhin gelang es ihnen, 14 als Agenten getarnte Juden in die Schweiz zu schmuggeln. "Vor allem mit Briefen an Parteistellen und Reichsministerien kämpfte der damalige evangelische Landesbischof Theophil Wurm", so Pfarrer Röhm. Wurms Appell an Hitler gegen die Judenmorde verbreitete ein Londoner Rundfunksender am 29. September 1943 in norwegischer Sprache.
"Auf eine Antwort aus Berlin wartete der Bischof vergeblich", so Eberhard Röhm. Da schrieb Wurm der Reichskanzlei, "dass Töten ohne Kriegsnotwendigkeit und ohne Urteilsspruch auch dann dem Gebot Gottes widerspricht, wenn es von der Obrigkeit angeordnet wird". Damit war der Bogen aus Sicht des NS-Staates überspannt, und Wurm wurde per Einschreibebrief von der Reichskanzlei verwarnt, "sich in den durch seinen Beruf gezogenen Grenzen zu halten und Ausführungen zu Fragen der allgemeinen Politik zu unterlassen". Daraufhin hielt sich der Landesbischof zurück und schwieg.
Ähnlich verhielt sich auch eine Zuhörerin des Vortrages: "Wir wussten was mit den Juden geschah. Man konnte aber nichts sagen. So schwieg man."