Ermordet wegen "ererbten Schwachsinns"
von Marius Venturini
Leonberg. Eine Ausstellung im Haus der Begegnung zeigt die Geschichte von Leonberger Euthanasieopfern.
Leonberger Kreiszeitung, 13. Oktober 2010
Thomas Stöckle, Leiter der Gedenkstätte in Grafeneck, beschreibt das Treiben der Nazis in der dortigen Tötungsanstalt als Auftakt zur NS-Vernichtungspolitik. Und auch Finanzbürgermeister Ulrich Vonderheid findet in seiner Rede zur Ausstellungseröffnung im Haus der Begegnung deutliche Worte: „Der Begriff Euthanasie, der sich inzwischen eingebürgert hat, beschreibt die Sache eigentlich nicht - Es war Mord.“
In der Tat ist es ist ein Verbrechen, wie es grausamer und heimtückischer nicht hätte sein können: Die Morde der NS-Schergen an tausenden behinderten und kranken Menschen. 19 der Opfer in Grafeneck stammten aus Leonberg und den umliegenden Gemeinden. Sie haben nun dank Eberhard Röhm und seinen Mitarbeitern in der Geschichtswerkstatt wieder ein Gesicht und eine Geschichte.
Wie zum Beispiel der Leonberger Hermann Scheytt. Der unter Schizophrenie leidende Mann, 1905 auf dem Rappenhof geboren, wurde am 3. Juni 1940 aus der Heil- und Pflegeanstalt in Winnenden zur Anstalt Grafeneck gebracht. Er war einer der Menschen, die in die berüchtigten grauen Busse der Nazis steigen mussten, die für ihre Mitfahrer die Reise in den sicheren Tod bedeuteten. Nach seiner Ankunft wurde er noch am selben Tag in Grafeneck in der Gaskammer ermordet.
Insgesamt 10654 Menschen fielen dort dem wahnsinnigen Plan der Nazis zum Opfer, eine Herrenrasse zu etablieren.
Eine von ihnen war auch Lydia Ansel. Die geistig behinderte Höfingerin wurde im Alter von 28 Jahren in Grafeneck getötet, weil sie den NS-Verbrechern als „lebensunwert“ und „kaum arbeitsfähig“ galt. Sie war ursprünglich in der Pflegeanstalt Mariaberg auf der Schwäbischen Alb untergebracht gewesen und bestieg am 13. Dezember den letzten Bus, der Menschen nach Grafeneck brachte. Zusammen mit 19 anderen wurde sie noch am selben Tag vergast.
Eberhard Röhm, Vorsitzender der Gedenkstätteninitiative Leonberg, ist kurze Zeit sprachlos, als er vom Rednerpult in den voll besetzten Saal blickt. „Wenn man sich ein Jahr lang damit beschäftigt hat, wird einem noch klarer, wie ernst das Thema ist“, sagt er. „Uns wurde in die Hand gelegt, mit dem Wissen aus den Archiven behutsam und verantwortlich umzugehen.“ Das ist eindrucksvoll gelungen. Waren die Grausamkeit und die Skrupellosigkeit der Verbrechen bereits bekannt, so schockieren die Einzelschicksale noch mehr, die in der Ausstellung zu sehen sind.
Der Eltinger Eugen Mörk: Umgebracht, weil ein Mediziner „ererbten Schwachsinn“ diagnostizierte. Emma Wolfangel, ebenfalls aus Eltingen: Ermordet, weil sie seit ihrem fünften Lebensjahr an epileptischen Anfällen litt. Ihre Lebens- und Todesgeschichten und auch die anderer „Verlegter“ („verlegt“ hieß im Nazijargon „getötet“) aus Leonberg stehen nun auf zwölf Tafeln im Haus der Begegnung.
Ein anderer Teil der Ausstellung stammt direkt aus Grafeneck. Für ihn ist der Historiker Thomas Stöckle verantwortlich. „Teile unserer Ausstellung standen bereits in ganz Deutschland“, sagt er. Auch schon in der Berliner Tiergartenstraße, wo früher in der NS-Bürozentrale die Fäden für die Euthanasiepläne zusammenliefen. Sie zeigt weitere Fakten über die Tötungsanstalt Grafeneck.
Fortsetzung. Die nächste Veranstaltung der Themenreihe findet am Montag, 18. Oktober, um 19.30 Uhr, im Haus der Begegnung statt. Der Titel lautet „Menschenzüchtungswahn in der Vergangenheit der Deutschen“. Weitere Informationen gibt es im Internet unter http://www.kz-gedenkstaette-leonberg.de/.