Gegen Vergessen und für Verantwortung
von Diana Sprung
Die SWR-Journalistin Andrea Beer hat die Bedeutung der Nazi-Verbrechen für die heutige Zeit diskutiert.
Leonberger Kreiszeitung, 20. April 2011
Was geht es uns an? Diese Frage stellte Andrea Beer am Montagabend den Zuhörern in der Stadtbücherei. Die Journalistin, die am Leonberger Albert-Schweizer-Gymnasium ihr Abitur gemacht hatte, berichtet für den SWR über den Demjanjuk-Prozess in München.
John Demjanjuk wird vorgeworfen von März bis September 1943 als Aufseher im Vernichtungslager Sobibãr, im damals besetzten Polen, gearbeitet zu haben. Somit wäre Demjanjuk, der später in die USA auswanderte, an der Ermordung von 27 900 Juden beteiligt gewesen. Das Urteil über den Angeklagten, der vor seiner Auswanderung den Vornamen Iwan trug, fällt das Gericht voraussichtlich am 12. Mai.
„Es geht heute Abend nicht darum zu klären, ob Demjanjuk schuldig ist oder nicht“, betonte Andrea Beer. „Stattdessen soll am Beispiel dieses Prozesses gezeigt werden, ob und was das, was damals passierte, uns heute noch etwas angeht.“ Dazu hatte die SWR-Journalistin ihren Vater Klaus Beer, einen ehemaligen Richter und ihren jüngeren Cousin Alexander Nolte zum Gespräch zwischen den Generationen eingeladen. Zunächst gab Klaus Beer den rund 50 Zuhörern eine geschichtliche Einführung zu dem Thema und beschrieb die Situation im Lager: „Bereits zwei Stunden, nachdem die Männer, Frauen und Kinder mit Zügen in Sobibãr angekommen waren, landeten sie in Massengräbern.“
Einige Verwandte dieser in den Gaskammern ermordeten Juden treten bei dem Prozess gegen Demjanjuk nun als Nebenkläger auf. „Insgesamt sind es über 30. So viele Nebenkläger gab es noch nie in der deutschen Justiz“, erzählte Andrea Beer. Mit vielen von ihnen hat sie sich lange unterhalten. Was sie in den Interviews über den Prozess sagten, spielte sie dem Publikum in der Stadtbücherei vor. So geht es den meisten um Gerechtigkeit und darum, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Wichtig ist den Hinterbliebenen aber auch, dass die jüngere Generation die Zustände von damals nicht vergisst, damit so etwas nicht noch einmal passieren kann.
An diesen Punkt knüpfte dann auch Alexander Nolte, als Vertreter der Jungen an. "Ich habe mich mit Leuten in meinem Umfeld unterhalten, was dieser Prozess für uns heute bedeutet", sagte der 35-Jährige. „Oft kam die Frage auf, ob es noch um Gerechtigkeit geht oder um historische Aufklärung oder um eine pädagogische Maßnahme.“ Für sich selbst hat Nolte folgenden Schluss gezogen: „Es braucht diese Aufarbeitung, um eine Sensibilität dafür zu erlangen, wann man gegen bestimmte Zustände etwas tun muss.“ Das antwortet er auch jungen Leuten, die fragen, wieso dieser Prozess jetzt noch eine Rolle spielt. Schließlich sei Demjanjuk mit seinen 91 Jahren schon sehr alt und er hätte vielleicht keine andere Wahl gehabt, um selbst zu überleben.
Im Anschluss an das Gespräch zwischen den Generationen diskutierte dann auch das Publikum eifrig über die Frage, was der Prozess für das Hier und Jetzt bedeutet. „Man muss sich fragen, inwieweit wir verantwortlich sind und uns verantwortlich machen lassen. Ich denke, wir zeigen Verantwortung, indem wir nicht vergessen“, sagte ein jüngerer Zuhörer.
Einig war sich das Publikum darin, dass sich die Geschichte des Nationalsozialismus so nicht noch einmal wiederholen wird. Trotzdem wiesen viele auf die Gefahr hin, die heute von Neo-Nazis ausgeht. „Die Einrichtungen von jüdischen Gemeinden brauchen oft immer noch Polizeischutz“, sagte eine Zuhörerin. Ein Mann sah die Gefahr nicht unbedingt auf Seiten der Neo-Nazis. „Es darf nicht mehr passieren, dass Unterschiede zwischen Menschen gemacht werden. Aber genau das passiert doch wieder. Vor allem bei Thilo Sarrazin, der behauptet, dass Menschen mit muslimischem Hintergrund weniger arbeitsfähig sind. Und seine Thesen stoßen bei Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung.“
Eine Anmerkung aus dem Publikum ließ viele Zuhörer nachdenklich werden: „Welche Schuld hätte man zurzeit des Nationalsozialismus selbst auf sich geladen, um zu überleben?“ Diese Frage sei auch im Prozesses gegen John Demjanjuk immer wieder aufgetaucht, sagte Andrea Beer. Die SWR-Journalistin zeigte sich mit dem Verlauf des Abends mehr als zufrieden. „Ich bin wahnsinnig überrascht, wie viele Leute gekommen sind. Es ist toll, dass in der Diskussion viele Fragen aufgetaucht sind, die auch im Prozess eine große Rolle spielen.“