Historiker über Gottlieb Hering

Vom Schutzmann zum Nazi-Verbrecher

Von Renate Stäbler 

Leonberg - Über die NS-Verbrechen von Gottlieb Hering aus Warmbronn wurde bereits mehrfach berichtet. Hering war während der „Aktion T 4“ an der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von geistig und körperlich Behinderten beteiligt, leitete das Vernichtungslager Belzec im Osten und beteiligte sich an der Judenvernichtung und Partisanenbekämpfung in Italien. Nun hat ein polnischer Historiker dessen Vorleben und seine Polizei-Karriere ausführlich beleuchtet.

Bei den beiden Kripo-Männern aus Schwaben handelt es sich um Christian Wirth und Gottlieb Hering. Ihre Namen tauchen in vielen Arbeiten zum Holocaust auf. Ihre Lebenswege sind eng miteinander verknüpft. Der Hintergrund, der Charakter und das Temperament von beiden waren erstaunlich ähnlich, auch wenn Hering der viel intelligentere von beiden war. Wirth wurde am 24. November 1885 in Oberbalzheim bei Ulm, geboren. Hering kam am 2.  Juni 1887 in Warmbronn zur Welt.

Rüpelhaftigkeit und Vulgarität

Wirth wie Hering waren harte, ungeschliffene Männer, bekannt für ihre Rüpelhaftigkeit und Vulgarität, sowohl im Benehmen wie in der Sprache. Beide verließen die Volksschule mit 14 und besuchten für zwei Jahre eine weiterführende Schule. Hering arbeitete danach in der Landwirtschaft. Wirth machte eine Tischler-Lehre und wurde mit 20 Jahren Soldat. Er diente von 1905 bis 1907 in Ulm beim Grenadier- Regiment 123 (König Karl). Hering leistete den Militärdienst ebenfalls in Ulm beim Ulanen-Regiment 20 von 1907 bis 1909. Beide verpflichteten sich anschließend für weitere drei Jahre beim Militär.

Danach traten sie in den württembergischen Polizeidienst ein und arbeiteten als Schutzmänner in Heilbronn. Wirth machte schnell Karriere, wurde nach Stuttgart und zur Kripo versetzt. Er arbeitete in der Dienststelle II in der Büchsenstraße 37. Wirth war hier bis zu seiner Abordnung nach Berlin 1939 tätig – nur unterbrochen durch seinen Einsatz im Ersten Weltkrieg. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich gleich zu Beginn freiwillig. Er war bis zum Kriegsende im Einsatz und wurde mehrfach wegen Tapferkeit ausgezeichnet und befördert. Als es zur deutschen Kapitulation kam, versuchte er, sich zu erschießen, was seine Mutter verhinderte.

Einsatz in Frankreich und Flandern

Hering, der anders als Wirth beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht auf der Welle des nationalen Patriotismus mit- schwamm, meldete sich nicht freiwillig an die Front. 1914 hatte der Katholik seine im dritten Monat schwangere Freundin geheiratet. Der Sohn Willy kam im selben Jahr zur Welt. Am 15. Oktober 1915 bekam Hering seinen Einberufungsbefehl. Er wurde bei der 2. Maschinengewehr-Kompanie des Grenadierregiments 123 (Stuttgart) in Frankreich und Flandern eingesetzt und ebenfalls mehrfach wegen Tapferkeit ausgezeichnet sowie zum Feldwebel befördert.

Nach Kriegsende war Hering Zeuge, wie die „Roten“ die Macht übernehmen wollten und Soldaten versuchten zu meutern. Hering beklagte später bitterlich das „marxistische Verhalten“ einer Minderheit beim Rückzug, die angefangen hätten, das „rote Gift“ im Vaterland zu verbreiten. Im November 1918 kehrte Hering nach Hause zurück und nahm seinen Dienst als Schutzmann in Heilbronn wieder auf. 1919 wurde er als Fahnder zur Kriminalpolizei versetzt. Er schloss sich den Verbänden „Vaterland“ und „Schwarz-Weiß-Rot“ an und las regelmäßig die antisemitische Zeitung „Der Leuchtturm“.

Unterschiedliche Wege in den Nachkriegsjahren

In den Nachkriegsjahren gingen Wirth und Hering politisch unterschiedliche ­Wege. Während Wirth bereits 1921 ­heim­lich der NSDAP beitrat, unterstützte ­He­ring anscheinend die SPD, wurde aber nie Mitglied. Die Depression Ende der 20er-Jahre verstärkte immer mehr die politische Polarisierung, es kam zum ideologischen Kampf auf der Straße und in den Lokalen. Auch nahm die Zahl der Straf­taten stark zu. Ein großer Teil der Polizei wandte sich von der parlamentarischen Demokratie ab und den Ideen eines autoritären Staates zu. Gleichzeitig übernahm die Polizei immer mehr politische Ordnungsaufgaben.

In dieser Zeit sah Wirth sich in seiner nationalsozialistischen Einstellung bestätigt, wohingegen Hering offenbar die ­Sozialdemokraten weiter unterstützte. ­Sowohl Wirths als auch Herings Karriere hatte in den 20er-Jahren einen Sprung ­gemacht. Als Wirth Vorsitzender des Reichsverbandes der Kriminalbeamten in Württemberg wurde, machte er Hering zu seinem Stellvertreter.

Nähe zur SPD

Ab 1922 war eine von Herings Aufgaben die Überwachung von politischen Versammlungen und Demonstrationen. Dabei soll er, wenn er alleine war, die linke SPD geschützt haben. 1925 qualifizierte er sich zum Ausbilder junger Polizisten und wurde schließlich 1926 zum Kriminalkommissar befördert. Außerdem leitete er eine Sonderkommission zur Überwachung radikaler politischer Parteien. Diese Position sei der Grund gewesen, so sagte er später, dass er Probleme bei der Polizei bekam. Die Mehrheit seiner Kollegen unterstützten damals die Nazis und viele misstrauten ­Hering, weil sie überzeugt waren, dass er weiterhin mit den Linken sympathisierte.

Schließlich wurde Hering auf Empfehlung seiner Vorgesetzten – jetzt im Rang eines Oberkommissars – Leiter der Kriminalpolizei in Göppingen. Das brachte ihn in Konflikt mit der örtlichen SS, der SA und den Naziführern, die ihn beschuldigten – wie die Schwaben sagten – ein „Nazifresser“ zu sein. Bei seiner Anti-Nazi-Kampagne löste er NSDAP-Versammlungen auf, verfolgte oder inhaftierte Führer und konfiszierte Gelder. Schließlich verbot er alle NSDAP-Versammlungen.

1933 Eintritt in die NSDAP

Das württembergische Innenministerium hatte in Stuttgart eine Dienststelle eingerichtet, die sich mit der Überwachung und Ermittlung der Regimegegner befasste. Dort wurde auch eine Akte geführt, die die Klagen der SS- und SA-Führer in Göppingen gegen ­Hering enthielt. SA-Obersturmführer Österreicher gab zu Protokoll, dass Hering ihm einmal in den 20er-Jahren gesagt habe, er lasse sich lieber eine Kugel ins Hirn schießen, als dass er Nazi würde. Hering wies alle Anschuldigungen vehement von sich. Er forderte eine vollständige Überprüfung durch das Ermittlungsbüro. Und am 1. Mai 1933 wurde Oberkommissar Gottlieb Hering Mitglied der NSDAP, sehr zum Erstaunen und Missfallen vieler Nazis in Göppingen. Er war einer von Tausenden sogenannten „Maikäfern“, die in dieser Zeit scharenweise in die Partei eintraten.

Intensive Überprüfung und gute Fürsprecher

Die von ihm selbst geforderten Ermittlungen ergaben im September 1933, dass seine Einstellung im Wesentlichen marxistisch geprägt sei und damit im Gegensatz zur NSDAP stehe. Obwohl drei andere Polizeikommissare auf Antrag der örtlichen SS und SA entlassen wurden, behielt Hering seinen Posten als Leiter der Göppinger Kripo. Dies war vor allem auf die Befürwortung durch Christian Wirth und zahlreiche andere Polizeikommissare und einflussreiche Nazis zurückzuführen, die zugunsten ­Herings aussagten. Sie erinnerten an seine hervorragenden Leistungen an der Front im Krieg und seine beispielhaften Erfolge bei der Polizei. Schließlich lag die Entscheidung über Herings Schicksal beim Reichsstatthalter von Württemberg, Wilhelm Murr, der auf Empfehlung vom Büro des Ministerpräsidenten, Christian Mergenthaler, Hering nach Stuttgart versetzte.

Karriere in der Nazizeit

Man war wohl ebenso wie Wirth der Meinung, ein guter Polizeibeamter sei nicht so leicht zu ersetzen. Am 24. Januar 1934 wurde Hering von Göppingen in das Polizeipräsidium in der Stuttgarter Dorotheenstraße versetzt. Am 19. Februar kam er zu Wirths Sonderkommission für Schwerkriminalität. Am 27. August 1934 leistete er den Treueeid auf Adolf Hitler. Er war inzwischen ein überzeugter Nazi und stand tief in Wirths Schuld.

Nach seinem radikalen Gesinnungswechsel machte Gottlieb Hering dann unter den Nazis weiter Karriere. Ab 1934 arbeitete er in Stuttgart an der Aufklärung verschiedener Mordfälle und man erkannte seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet. 1937 stieg er zum Kriminalbezirkssekretär im Stuttgarter Polizeipräsidium auf. Im November 1939 beförderte man ihn zum Leiter der Kriminalpolizei in Schwenningen, doch nur für sechs Wochen. Dann wählte man ihn als einzigen württembergischen Polizeibeamten für ein Spezialteam aus, das allein Kriminalrat Paul Werner, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Reichskriminalamtes in Berlin unterstand.

Tod kurz nach dem Kriegsende

Das Team wurde nach Gotenhafen (Gdynia) an der baltischen Küste des „polnischen Korridors“ geschickt. Die Gruppe sollte – in SS-Uniformen – die Wiederbesiedlung des Gebiets durch Volksdeutsche aus den baltischen Staaten organisieren. Die Hälfte der Bevölkerung wurde brutal ausgewiesen, Häuser, Land und Besitz der Ausgewiesenen wurden konfisziert.

Ende 1940 wurde Hering zurückbeordert. Wahrscheinlich hatte Wirth ihn angefordert, um in seinem Team an einer „geheimen Reichssache“, der von ihm organisatorisch geleiteten Aktion T 4, mitzuarbeiten. Damit begann endgültig der verbrecherische Teil von Herings Karriere: zunächst als Leiter des Sonderstandesamtes Pirna-Sonnenstein (einer Tötungsanstalt), dann als Nachfolger von Wirth als Kommandant des Vernichtungslagers Belzec und zuletzt als Teilnehmer an der Judenvernichtung und Partisanenbekämpfung in Italien („Sonderabteilung Einsatz R“). Gottfried Hering starb bereits kurz nach Kriegsende, am 9. Oktober 1945, so dass er für seine Verbrechen nicht mehr zur ­Rechenschaft gezogen werden konnte.

Renate Stäbler

Die 79-Jährige ist langjährige Gewerkschafterin und Lokalpolitikerin. Seit 1999 Vorstandsmitglied der KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg, Mitverfasserin des Buches „Konzentrationslager und Zwangsarbeit in Leonberg“. Lokalhistorische Veröffentlichungen zusammen mit der verstorbenen Journalistin Monica Mather: „Schwierigkeiten des Erinnerns“, „Warmbronn – Geschichte eines altwürttembergischen Fleckens sowie „Mueter und Schwestern gemainlich jung und alt – Historische Spuren von Beginen im Leonberger Raum“. Außerdem ist Renate Stäbler Autorin von „Bauernführer, Hexen, Mägde, Schultheißen – Porträts von Warmbronner Frauen und Männern“
(u. a. von Gottlieb Hering)

Der Beitrag
Der Artikel von Renate Stäbler ist eine gekürzte und auf Gottlieb Hering kon­zentrierte Fassung des Aufsatzes von Michael Tregenza, Lublin – mit freundlicher Genehmigung des Gedenkstättenverbundes Gäu-Neckar-Alb. Er ist unter dem Titel „Zwei Kripo-Männer aus Schwaben“, in der Übersetzung durch Irene Vogel, erschienen in der „Gedenkstätten-Rundschau“(Gemeinsame Nachrichten der Gedenkstätten KZ Bisingen, Eckernwald-Schörzingen u. a.)


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