Holländische Zwangsarbeiter in Leonberg
Das Leonberger KZ
Die 200 Holländer in der Kaserne
Buchbesprechung von Hartmut Fritz für die Leonberger Kreiszeitung vom 09.05.2022
Eberhard Röhm, Mitbegründer und Vorstandsmitglied der KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg, hat ein neues, umfangreiches Buch vorgelegt zur Geschichte des Leonberger KZ. Dieses Mal handelt es sich nicht um KZ-Häftlinge, die in den beiden Lagern an der Seestraße untergebracht und von der SS bewacht und drangsaliert wurden. Eberhard Röhm erzählt die Geschichte von 200 Holländern, die am 1. Juli 1944, rekrutiert vom deutschen Arbeitsamt in den Niederlanden, zwangsweise nach Leonberg kamen. Sie wurden Baufirmen wie Dyckerhoff & Widmann oder der Gerlinger Baufirma Gottlob Weidle als Hilfsarbeiter zur Verfügung gestellt.
Die Männer mussten den Engelbergtunnel zur Fabrik ausbauen und die Unterkünfte für die KZ-Häftlinge in der Seestraße, auf dem heutigen Gelände des Samariterstifts, errichten. Untergebracht waren diese Hilfsarbeiter in der Rutesheimer Straße 50/3, in einem ursprünglich als Flak-Kaserne vorgesehenen, später als Krankenhaus genützten Gebäude; deshalb wurden sie als die „Holländer in der Kaserne“ apostrophiert.
Zwei Holländer berichten den Leonbergern im Frühjahr 1979
Zwei dieser Holländer, der Arzt Roel Paizé, und der 1945 in Leonberg schwer erkrankte Berend Pepping, konnte die Leonberger Bevölkerung schon vor mehr als 40 Jahren bei einer gemeinsamen Vortragsveranstaltung der Stadt und der Leonberger Kirchen im Haus der Begegnung zum Thema „Das KZ Leonberg“ kennenlernen.
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Die Veranstaltungsreihe wurde durch die Bildung einer Projektgruppe vorbereitet, initiiert durch Oberbürgermeister Dieter Ortlieb und Dekan Eugen Stöffler. Bis die Vortragsreihe dann im April 1979 starten konnte, mussten OB und Dekan das Vorhaben gegen manchen Widerstand in der Stadt vertreten und auch durchsetzen: Endlich sollte die Geschichte des KZ aufgearbeitet und so eine Erinnerungskultur etabliert werden.
Falsche Darstellung in offiziellen Chroniken
Die beiden Holländer wurden von den Veranstaltern als KZ-Häftlinge vorgestellt. Zwanzig Jahre lang, so berichtet Röhm jetzt, wurde die irreführende Vorstellung, dass alle Zwangsarbeiter im Rahmen des Rüstungsprojekts Messerschmitt KZ-Häftlinge gewesen wären, fortgeschrieben, auch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen wie der offiziellen Stadtchronik (1998), in der Geschichte des Leonberger Krankenhauses von Ernst und Lilienne Haaf (1996) und im Buch „Frauenleben in Leonberg“ (1998).
Nach jahrelanger akribischer historischer Forschung ergibt sich ein neues Bild. Das gilt auch für die noch in der Geschichtswerkstatt (1999/2001) vertretene Annahme, dass die Gestapo in der „Kaserne der Holländer“ ein Arbeitserziehungslager unterhalten habe, wie dies auf einer 2007 von Landrat Bernhard Maier enthüllten Gedenktafel zu lesen ist. An den 200 Holländern lässt sich, so Röhm, vielmehr der fundamentale, in der Rassenlehre der Nazis begründete Gegensatz in der Behandlung von KZ-Häftlingen ablesen.
Die „Holländer“ wurden, wie die Messerschmitt-Mitarbeiter, aber anders als die KZ-Häftlinge, gegen Fleckfieber und Typhus geimpft. Sie galten als „germanische Blutsbrüder“. So wurden sie auch angesehen und behandelt. Sie waren zwar auch gezwungenermaßen als Arbeitskräfte nach Leonberg gebracht worden. Bei ihrer Ankunft hatte man ihnen aber in Aussicht gestellt, bei guter Führung nach einem halben Jahr wieder „freie Holländer“ zu sein.
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Dies traf dann auch zu. Seit November 1944 waren sie ganz der Organisation Todt (Kürzel: „O. T.“) unterstellt, einer paramilitärischen, für Großbauten zuständigen Truppe. Ab Ende des Jahres 1944 waren sie tatsächlich „freie Holländer“ und konnten, weil sie ja durchweg gut deutsch sprachen, auch mit der Bevölkerung Kontakt aufnehmen oder auch Gottesdienste besuchen.
Einen breiten Raum nimmt im Buch das Thema Krankheitsfürsorge ein. Für die „Holländer in der Kaserne“, anders als für die KZ-Häftlinge, standen im Krankenhaus Pflegebetten zur Verfügung. So konnte Röhm die Namen von neun Holländern ausfindig machen, die zeitweise im Krankenhaus aufgenommen wurden. Einer von ihnen war der Medizinstudent Roel Paizé, der im Dezember 1944 Karl Stingele als Bettnachbarn kennenlernte. Die vierzehn an Typhus erkrankten Holländer – unter ihnen auch Berend Pepping – wurden wegen der Ansteckungsgefahr für die Bevölkerung nicht in das Leonberger Krankenhaus eingewiesen, sondern sie kamen in das deutsche Militär-Reserve-Lazarett „Waisenhaus“ in Esslingen.
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Nach dem im Stadtarchiv Esslingen vorhandenen Aufnahmebuch des Lazaretts wurden die aus Leonberg eingewiesenen Patienten dort als „O.T.-Männer“, wie andere deutsche Wehrmachtsangehörige, gewissermaßen als „Verbündete“ und als Angehörige eines „germanischen Brudervolks“, aufgenommen. Nach ihrer Genesung wurden sie zu ihrem „Truppenteil“ „Organisation Todt Einsatzgruppe V Leonberg“ wieder entlassen. Vier von ihnen haben die Krankheit nicht überlebt, sind in Esslingen gestorben und kirchlich bestattet worden.
Berend Pepping war nicht entlassungsfähig und wurde am 8. Mai in das Städtische Krankenhaus Esslingen eingeliefert. Dort wurde er liebevoll von der Stuttgarter Diakonisse Schwester Else Glöckler betreut. Die Freundschaft überdauerte den Krieg. Vier Jahre später heirateten die beiden.
Ein neues Bild über die „Holländer in der Kaserne“ dank guter Quellen. Sein Buch konnte Eberhard Röhm nur aufgrund einer außergewöhnlich guten Quellenlage entwerfen, die er sich in den letzten zwanzig Jahren erarbeitet hat. Mit drei „Holländern“ konnte er noch zu deren Lebzeiten Kontakt aufnehmen. Eine größere Zahl von Nachkommen hat ihm eine erstaunliche Fülle an historischen Primär-Quellen zur Verfügung gestellt.
So sind 41 Briefe, die von sieben Holländern nach Hause geschrieben wurden, erhalten. Drei penibel geführte Tagebücher und zwei schriftlich abgefasste autobiografische Aufzeichnungen ergeben ein differenziertes und detailreiches Bild dieser besonderen Zwangsarbeiter-Gruppe. Damit konnte der Autor 81 Lebensbeschreibungen sammeln und im Buch wiedergeben.
Leonberger und Eltinger verstecken die Arbeiter
Viele „freie Holländer“ konnten sich in den Wirren des Kriegsendes der Aufsicht der Lagerleitung entziehen. So fanden Piet Schultz, der spätere Polizeipräsident von Den Haag, und sein Freund Laurens Heijs bei ihrem bisherigen Arbeitgeber, dem Bauunternehmer Gottlob Weidle in Gerlingen, einen Unterschlupf. Willem Moerkamp wird von der Familie Bosch, Hindenburgstraße 81, aufgenommen, wo er bis zum Sommer blieb. Auch Jakob Krediet kam bei der Familie Bosch unter und meldete sich in der Woche nach dem Einmarsch der Franzosen in der Hindenburgstraße 81 polizeilich an. So hat auch das Ehepaar Stingele wohl drei der Holländer im Keller ihres Gartenhauses bis zum Kriegende versteckt.
Die Nazis, so auch die „Organisation Todt“, hatten vor Kriegsende ihre gesamten Unterlagen vernichtet. Umso wertvoller ist Arbeit von Eberhard Röhm einzuschätzen, der nun ein erstaunlich lebendiges und detailreiches Zeitbild entstehen lassen konnte, eines das auch manche Korrekturen am bisherigen Kenntnisstand nötig macht und miteinbezieht.
Das Werk reiht sich ein in die Beiträge zur Geschichte der Stadt und des KZ Leonberg. Die Lektüre wird bereichert durch mehr als 100 persönliche Bilder und Briefe, durch Faksimile-Dokumente und durch Aufzeichnungen der befragten Angehörigen. Die Lektüre ist also nicht nur den „Spezialisten“ zu empfehlen, sondern all denen, die sich interessieren für die eigene Stadt- und Heimatgeschichte und die sich bewegen und berühren lassen von der immer noch und weiterhin offenen Erinnerungskultur.
Das Buch: Eberhard Röhm, mit Vorarbeit durch Volger Kucher und einem Beitrag von Marga Pepping: Die Holländer in der Kaserne – Zwangsarbeiter unter der Gewalt der Organisation Todt in Leonberg 1944/45; 300 Seiten mit über 100 Bildern und Faksimile-Dokumenten. Erschienen im Eigenverlag der KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg. Der Bezug ist über info@kz-gedenkstaette-leonberg.de gegen eine Spende von zehn Euro und 2,50 Euro Versandkosten möglich.
Zum Autor
Hartmut Fritz
Geboren 1945 in Oberjesingen, hat nach dem Gymnasium in Tübingen dort evangelische Theologie studiert. Als Pfarrer war er in den Gemeinden Renningen (1972), Reutlingen (1974), Tübingen-Hagelloch (1983) und als Dekan im Kirchenbezirk Leonberg (1994) tätig. Er ging als Vorstandsvorsitzender der Samariterstiftung in Nürtingen (2004 bis 2012) in den Ruhestand. Die Promotion zum Doktor der Theologie (Tübingen) erfolgte mit einer Dissertation zum Thema: „Otto Dibelius. Ein Kirchenmann zwischen Monarchie und Diktatur“ (1995). Hartmut Fritz ist Gründungsmitglied des Vereins der KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg.