Ich will nicht sterben!

von Florian Mader
Im Theaterstück „Hinterm Berg“ erzäheln Gerlinger Schüler in der Steinturnhalle die Geschichte des Leonberger Konzentrationslagers. Der Lehrer Michael Volz hat das Stück inszeniert und macht so den Schrecken sichtbar.
Leonberger Kreiszeitung, 24. Februar 2014

Ohrenbetäubend laut ist der Lärm. „Haben Sie denn keinen Gehörschutz dabei?", fragt denn auch der leitende Messerschmitt-Ingnieur die neue Sekretärin. Nein, hat sie nicht, sie hat nämlich keine Ahnung. Zwar wohnt sie in Gerlingen, ganz in der Nähe. Doch was dort, im Konzentrationslager Leonberg, vor sich geht, weiß sie nicht. Dort, im Engelbergtunnel, dort „Hinterm Berg".

So heißt auch das Stück. „Hinterm Berg", sagt Michael Volz, „also weit weg von uns, ist der nationalsozialistische Schrecken gewesen. Das haben mir viele Gerlinger gesagt, mit denen ich gesprochen habe." Michael Volz ist Lehrer am Gerlinger Robert-Bosch-Gymnasium. Und er ist dort Leiter der Theater-AG. Das Unwissen vieler Gerlinger sei für ihn Anlass genug gewesen, die Geschichte des KZ Leonberg mit seiner Theatergruppe aufzuarbeiten. „Hinterm Berg" heißt deshalb die Produktion, die die Gerlinger am Samstagabend nun auch in der Steinturnhalle den Leonberger Zuschauern präsentiert haben.

Die halten sich immer noch die Ohren zu. Mit voller Kraft schlagen sieben Häftlinge Getränkekisten auf Blech. Die Gefangenen sind vom Scheitel bis zur Sohle weiß verhüllt, auch ihr Gesicht ist nicht zu erkennen. Anonym stehen sie stellvertretend für die über 3000 Insassen, die im alten Autobahntunnel arbeiten mussten. „Wie halten die das ohne Gehörschutz nur aus?", fragt die Sekretärin (Jessica Eck). Der Ingenieur (Marcel Kammerer) antwortet: „Das sind Juden und Untermenschen.

"Klar und bestimmt, einschneidend und drastisch ist die Sprache, die Michael Volz, der auch das Drehbuch geschrieben hat, seinen Schülern in den Mund legt. Etwa ein Drittel der Schüler ist erst in der siebten Klasse.

Zum Beispiel Erik Laicher. „Ich will nicht sterben!", ruft er. Er hat sein Gesicht enthüllt, denn er spielt Albert Montal, ein Häftling, dessen Schicksal die Grundlage des Theaterstücks ist. Albert Montal wurde als Fünfzehnjähriger in seinem franzosischen Heimatort Charmes verhaftet und nach Leonberg deportiert.

In Charmes lebt der heute 85Jährige noch heute, sodass ihn die Schauspieler dort besuchen konnten. „Die Texte, die ich spreche, hat Albert Montal selbst geschrieben", erzählt Erik Laichler, „ich darf also so spielen, wie er es selbst erlebt, selbst empfunden hat." Quietschend, unheilvoll und oft ohne Struktur ist die Musik, die der Elftklässler Benjamin Heiser für das Stück komponiert hat. Unverständlich, so wie das komplette Thema, das die Gerlinger bearbeiten. Ganze Arbeitet leisten auch die Lautsprecher, die den Lärm von Bomben und Militärflugzeugen, Ansprachen und Predigten des Führers ausspucken. Fast körperlich spüren die Zuschauer die Bedrohung. Automatisch stellen sich da bei jedem Fragen.

Fragen, die meistens mit einem „Warum" beginnen. Fragen, die die einzelnen Protagonisten im Stück zu beantworten versuchen. „Die Wunderwaffe wird uns siegen helfen", sagt da etwa der Soldat Franz (Hendrik Laicher), der sich freiwillig zur Luftwaffe meldet. Die „Wunderwaffe", das ist die Messerschmitt Me 262, ein Flugzeug, dessen Teile die Häftlinge im Leonberger Tunnel-KZ bauen müssen. „Unsere Fahne flattert uns voran." Fesche junge Mädchen treten an, singend, marschierend im Gleichschritt, fast fröhlich. Denn das Stück zeigt auch die Perspektive „vor dem Berg", in Gerlingen, wo die nationalsozialistische Ideologie ihren Platz im Alltag eingenommen hat.

Im Wirtshaus wird heftig diskutiert, in der Schule lernen die Kleinen den Heil-Hitler-Gruß („Wolfgang, man grüßt mit rechts!") bereits vor dem Lesen. Sie schreiben Aufsätze über die Hoffnung auf den deutschen Endsieg. „Wir haben gelernt, dass die Faszination des nationalsozialistischen Regimes einfach enorm gewesen sein muss", lautet ein Fazit, das die Zuschauer von den Schauspielern mit auf den Nachhauseweg bekommen. Das bis auf den letzten Platz besetzte Auditorium ist am Ende erschöpft und aufgerieben.

Der Leonberger Gedenkstätteninitiator Eberhard Röhm redet ihnen aus der Seele, wenn er den Schauspielern zuruft: „Besser und dichter als es Euch gelungen ist, kann man nicht miterleben, was damals geschehen ist." Die etwa 30 Schauspieler müssen jetzt ihren Text noch auf Französisch pauken, denn im April geht die Theatertruppe auf Tournee nach Vesoul, Gerlingens Partnerstadt.

Und auch in Charmes gibt es einen Auftritt - dort wir dann Albert Montal sein eigenes Schicksal auf der Bühne erleben.


zurück