In der eigenen jüdischen Geschichte verhaftet
von Ralf Krüger
Leonberger Kreiszeitung, 27. Januar 2013
Er hat erst im Ruhestand die nötige Zeit gefunden, seine Herkunft und seine jüdische Abstammung zu ergründen. Aber das Klaus Beer, ehedem Richter am Oberlandesgericht und Vorsitzender Richter am Landgericht Stuttgart, mit so viel Zielstrebigkeit getan, dass ihm am Montag im Berliner Abgeordnetenhaus der Obermayer German Jewish History Award verliehen wird. Diese bundesweite Auszeichnung wird seit dem Jahr 2000 jährlich an Menschen verliehen, die ehrenamtlich herausragende Beispiele zur Dokumentation und zum Erhalt jüdischer Geschichte und Kultur geleistet haben.Klaus Beer, 1933 geboren, blickt heute mit fast 80 Jahren auf ein bewegtes Leben zurück. Er wuchs in Ulm mit der üblichen Nazi-Propaganda auf, die alle Juden zu „Untermenschen“ erklärte. Als Kind stellte er dies auch überhaupt nicht in Frage, sondern wollte am liebsten wie seine Klassenkameraden zur Hitlerjugend gehen. „Alle Schulkameraden hatten schöne Uniformen, nur ich nicht, denn mein Vater ließ mich nicht zur Hitlerjugend. Als Kind will man einfach dazugehören. Aber mein Vater erzählte mir schon früh, dass das Dritte Reich ein Verbrechen ist. Und obwohl ich noch Kind war, wusste ich, dass es gefährlich für ihn war, so etwas zu sagen“, erzählt Klaus Beer in der Rückschau.
Im April 1945 wurde Ulm von amerikanischen Soldaten besetzt „und man konnte endlich wieder frei reden. Erst jetzt erzählte mein Vater mir von seiner jüdischen Abstammung – vorher hatte er mich damit nicht belasten wollen, weil alle behaupteten, die Juden seien die schlimmsten Unmenschen. Als Kind will man nicht hören, dass die eigene Großmutter zu diesen Menschen gehörte, aber nach dem Krieg sagte mein Vater mir, dass meine Großmutter Elise Jüdin war.“
„Ich war schockiert“, erzählt Beer, der damals zwölf Jahre alt war. „Es dauerte eine Weile, bis ich das verarbeitet hatte. Während des Dritten Reichs hatte man uns in eine bestimmte Richtung erzogen. Nach dem Krieg musste ich mich von allem befreien, was man mir in der Schule über die Menschen beigebracht hatte, und erkennen, dass die Welt in Wirklichkeit ganz anders war. Das dauerte seine Zeit.“
Diese drastische Erkenntnis war mit ein Grund dafür, dass Beer in seinem späteren Berufsleben als Richter den Fokus sehr stark auf die demokratischen Werte richtete. Doch erst nach seiner Pensionierung im Jahr 1994 konnte er sich der Suche nach seinen jüdischen Wurzeln widmen und Kontakt zu jüdischen Familien aufnehmen, die vor dem Nazi-Regime aus Deutschland geflohen waren.
Die Ergebnisse seiner Arbeit sind beeindruckend: 1997 veröffentlichte er die Lebensgeschichte seiner Großmutter, die 1941 eines natürlichen Todes gestorben war: „Elise Beer, geborene Cohen: Großmutter“. 2001 folgte sein größeres Werk, ein Porträt der gesamten Familie Cohen aus dem niedersächsischen Osterholz-Scharmbeck. Beer hat auch zahlreiche Aufsätze zum „Ulmer Einsatzgruppen-Prozess“ von 1958 verfasst sowie ein Buch zum Antisemitismus in der Bevölkerung von Ulm in der Nachkriegszeit („Auf den Feldern von Ulm“, erschienen 2008).
Beer wurde in Hamburg geboren und verbrachte dort viel Zeit mit seiner jüdischen Großmutter, wenn die Familie zusammenkam. 1943 zog seine engste Familie nach Ulm, um den Luftangriffen der Alliierten zu entfliehen. Nach dem Krieg wurde in der Schule nicht viel über Kriegsverbrechen geredet. Viel später, während seiner Referendarzeit in Ulm, erfuhr Beer im Rahmen des Einsatzgruppen-Prozesses 1958 von den Massenerschießungen von Juden in Osteuropa. Damals wusste er immer noch nicht, dass auch Teile seiner Familie auf diese Weise ermordet worden waren.
Beer wurde später Richter am Oberlandesgericht sowie Vorsitzender Richter am Landgericht Stuttgart. Er war zudem Mitgründer und sechs Jahre lang Vorsitzender der Neuen Richtervereinigung.
In den 1970er Jahren leitete Beer als Richter Entschädigungsverfahren für Verfolgte während der NS-Zeit. So lernte er zahlreiche – meist jüdische – Lebensgeschichten kennen und erfuhr viel über Geschichte. Nur die Geschichte seiner eigenen Familie blieb weiterhin im Dunkeln. Dies sollte sich von 1994 an ändern, als er begann, sich durch Archive und Bibliotheken zu arbeiten, darunter auch das Centrum Judaicum in Berlin. Am Anfang hatte er nur den Namen seiner Oma. Doch am Ende gelang es ihm, entfernte Verwandte in den USA und den Niederlanden aufzuspüren – und sie persönlich kennenzulernen. Dafür recherchierte er auf Friedhöfen und befragte Einwohner von Osterholz-Scharmbeck in Niedersachsen, wo seine jüdischen Vorfahren gelebt hatten. So konnte Beer seine Familie schließlich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen.
Er fand heraus, dass seine jüdischen Vorfahren „alles getan hatten, Teil der deutschen Gesellschaft zu sein. Sie waren jüdische Deutsche“, so Beer. „Sie haben im Ersten Weltkrieg für den Kaiser gekämpft, sie sprachen ausschließlich Deutsch, die Inschriften ihrer Grabsteine waren Deutsch. Aber das alles half ihnen nicht.“ 19 seiner Verwandten wurden ermordet. Von den Juden aus Osterholz-Scharmbeck, die nicht geflohen waren, überlebten nur zwei den Holocaust.
Beer besuchte die Mordfelder Weißrusslands und die Gedenkstätte Theresienstadt in der Tschechischen Republik. Im November 2002 reiste er nach Minsk, um dort an der Einweihung eines Gedenksteins für die Juden des ehemaligen Gettos teilzunehmen, die 61 Jahre zuvor aus der Region Bremen deportiert worden waren.
Vier Jahre später setzte Beer sich für die Errichtung eines Denkmals für die 22 ermordeten Juden von Osterholz-Scharmbeck in der Nähe des Standortes der ehemaligen Synagoge aus dem 19. Jahrhundert ein. Parallel dazu fand im Rathaus eine Ausstellung zur jüdischen Geschichte statt. Beers Forschungsarbeit führte ihn auch tiefer in die Kriegsgeschichte Leonbergs, wo er seit 1970 mit seiner Ehefrau Linde lebt. In Leonberg gab es ein von der SS geführtes KZ-Außenlager, in dem die Häftlinge vornehmlich für die Waffenindustrie arbeiteten. 1999 war Beer hier Mitbegründer der KZ-Gedenkstätteninitiative.
Der erste persönliche Kontakt zum lange verloren geglaubten Familienzweig reicht in das Jahr 2000 zurück, als Beer eine entfernte Cousine, Harriet Zuckerman, fand, die ihn auch für den Obermayer Award vorgeschlagen hat. Sie wurde zwar in den USA geboren, sprach zu Beers Erstaunen aber Deutsch mit dem Hamburger Dialekt ihrer Großmutter. Inzwischen haben sie sich mehrfach gegenseitig besucht. Die erste Reise Zuckermans nach Deutschland – vor der ersten persönlichen Begegnung mit Beer – war schwierig. Sie hatte Angst, nach Deutschland zu kommen. Heute sagt sie jedoch, dass viele Deutsche sich sehr um Wiedergutmachung für die Taten ihrer Eltern und Großeltern bemüht haben: „Es ist gut zu wissen, dass es Menschen gibt, denen unsere Geschichte wichtig ist.“
Für Beer begannt die Reise mit der Enthüllung seines Vaters im Frühjahr 1945. Die Tage des Leugnens und Schweigens sind längst vorüber. „Damals sprachen die meisten Menschen mit jüdischer Großmutter oder jüdischem Großvater nicht darüber“, erinnert er sich. „Sonst benahmen viele Leute sich plötzlich anders, man konnte zum Außenseiter werden.“
Und wie empfindet Klaus Beer heute? „Ich fühle mich durch die Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte auch meiner Familie viel freier als in früheren Jahrzehnten“, sagt er. Doch er hat mit seinem Engagement auch das Leben vieler anderen Menschen berührt. Oder, wie seine Cousine Harriet Zuckerman sagt: „Ich habe eine Geschichte; ich gehöre zu jemandem. Und das verdanke ich ihm.“