In Leonberg haben sie viel Leid erfahren
von Eberhard Röhm
Die ehemaligen Insassen des KZ Leonberg, Pjotr Kudrjaschow und Leo Finkelstein, sind gestorben.
Leonberger Kreiszeitung, 12. Juli 2011
Die Reihen der Überlebenden des ehemaligen Leonberger KZ und Arbeitslagers lichten sich immer mehr. Innerhalb kürzester Zeit sind Pjotr Wassiljewitsch Kudrjaschow und Leo Finkelstein gestorben, die seit Jahren einen engen Kontakt zu Leonberg und der KZ-Gedenkstätteninitiative gepflegt haben.
In seiner Heimat Nikolajew/Ukraine ist Pjotr Kudrjaschow einem schweren Krebsleiden erlegen. Kein Zwangsarbeiter, der 1944 nach Leonberg verschleppt wurde, hat Leonberg danach so häufig wieder besucht wie er, nicht zuletzt dank der freundschaftlichen Verbundenheit mit Ursula Beutelspacher von der Gedenkstätteninitiative. Sie war es auch, die ihn in seinen letzten Tagen besucht und mit Spendengeldern der LKZ-Aktion „Lichtblicke“ für seine medizinische Betreuung gesorgt hat.
Von keinem Deportierten ist die Lebensgeschichte so genau bekannt, wie die von Pjotr Kudrjaschow.
Vor einer Vielzahl von Leonberger Schülern hat er, der fleißig deutsch lernte, leidenschaftlich über das eine Jahr in Leonberg, von Mai 1944 bis April 1945, berichtet. Pjotr Kudrjaschow war kein KZ-Häftling, sondern einer der zahlreichen Ost-Zwangsarbeiter, die unter der Gewalt der „Organisation Todt“ zum Bau der Messerschmittfabrik im Engelbergtunnel oder - wie in seinem Fall - zum Bau einer Wasserleitung vom Glemstal bis zum Engelberg eingesetzt wurden.
Pjotr Kudrjaschow wurde im Dezember 1926 in der Ukraine geboren. Im August 1943 wurde er mit seinem ganzen Jahrgang in Güterwagen nach Deutschland deportiert. Die Jugendlichen hatten zunächst neun Monate lang im bombenzerstörten Wuppertal die Trümmer dieser Stadt zu beseitigen. Im Mai 1944 wurde er nach Leonberg verlegt. Die Zwangsarbeiter waren zwar bewacht, hatten jedoch, im Gegensatz zu KZ-Häftlingen, gelegentlich am Sonntag Freigang. So kam es zur Begegnung mit Elisabeth Dommes und ihrer Familie auf der Gerlinger Höhe. Pjotr Kudrjaschow verdingte sich etliche Male mit Gartenarbeiten und erhielt dafür eine warme Mahlzeit.
Diese warmherzige Frau, deren Mann im Krieg war, hatte keine Angst vor einem Ukrainer und Zwangsarbeiter. Sie war es auch, die nach der Perestroika den Kontakt mit Pjotr suchte. So kam es bereits im Jahr 1991 zum ersten Wiedersehen Gerlingen.
Statt nach dem Krieg in seine Heimat heimkehren zu können, wurde Pjotr Kudrjaschow für fünf Jahre in die Sowjetarmee gesteckt. Er wurde einem Sonderkommando in der deutschen "Ostzone" zugeteilt und war an der Demontage von Fabriken in Ostdeutschland beteiligt. 1950 kam er nach Hause. Er studierte in Kiew Medizin und begann 1959 als Arzt in einer Klinik in Nikolajew auf dem Gebiet der Erforschung und Behandlung ansteckender Krankheiten. Bald heiratete er seine Frau Musa. Sie haben drei Kinder und vier Enkelkinder. 2005 entsprach Kudrjaschow einer Bitte der Gedenkstätteninitiative, sein Leben aufzuschreiben. Daraus ist die Autobiographie "Unterwegs zwischen Nikolajew und Leonberg" entstanden.
Leo Finkelstein wurde am 30. Juni 1923 in Radom/Polen geboren. Die Eltern und seine beiden Schwestern sind Opfer des Holocaust geworden. Er allein überlebte. Im März 1941 errichteten die Deutschen in Radom ein Ghetto, in die 30 000 Juden gepresst wurden. Zwei Jahre später wurde Leo Finkelstein in das Zwangsarbeitslager Wolanow in der Nähe von Radom verschleppt. Damit begann für ihn eine Odyssee durch sieben Lager. Im Juli 1944 drohte ihm die Vernichtung in Auschwitz. Hier bekam er die Nummer B 2188 in den Unterarm eintätowiert, die ihn ein Leben lang begleiten wird. Er gehörte zu den wenigen, die Auschwitz überlebt haben.
Im November 1944, als angesichts der näher rückenden Front die Vergasungsanlagen und die Krematorien in Auschwitz-Birkenau schon nicht mehr in Betrieb waren, kam er über Groß-Rosen und Flossenbürg nach Leonberg. Hier begegnete er seinem Jugendfreund aus Radom, Bolek Urbas. Dieser warnte ihn, sich vor dem Arbeitseinsatz im Tunnel zu drücken und sich krank zu stellen. Es stand ihm aber noch der Todesmarsch in Richtung Bayern bevor, wo ihn am 30. April amerikanische Panzer befreiten.
Leo Finkelstein begab sich, so bald er konnte, zu einem Verwandten nach Stuttgart. Seit 1945 wohnte Leo Finkelstein in Stuttgart, gründete im Lauf der Jahre eine Familie und eine Firma, die mit Süßwaren handelte. Vor einigen Jahren zog er mit seiner Frau zu seinen in Israel wohnenden Kindern, Enkeln und Urenkeln. Jetzt ist Leo Finkelstein in Haifa verstorben.
Der Autor ist Pfarrer i. R. und Vorsitzender der Leonberger KZ-Gedenkstätten-Initiative.