LkZ-Serie über das KZ Leonberg, Teil 2: Avraham Ary
Ehemaliges KZ-Außenlager Leonberg -
Der letzte Überlebende des Leonberger KZ
16.01.2025 - 19:00 Uhr
Avraham Ary lebt seit 1948 in Israel. Foto: /privat
Bis vor 80 Jahren gab es in Leonberg ein KZ-Außenlager. Avraham Ary ist wohl der letzte noch lebende ehemalige Häftling.
Avraham Ary war 16 Jahre alt, als er im Dezember 1944 in Leonberg ankommt. Er ist der letzte bekannte lebende Häftling des ehemaligen KZ-Außenlager in Leonberg. Heute ist Ary 96 Jahre alt und lebt in Haifa, im Nordwesten Israels am Mittelmeer.
Als Kind in Polen – Ende der 30er-Jahre –trägt er eine Mütze mit einem Judenstern. Als der zweite Weltkrieg beginnt, ist er elf Jahre alt. „In den darauf folgenden sechs Jahren habe ich die Hölle erlebt“, sagte Ary einst bei einer Veranstaltung in der Leonberger KZ-Gedenkstätte im Jahr 2001. Man habe seine Mutter und seine beiden Brüder mit Gas vergiftet, auch seinen Vater habe er verloren – und er selbst wurde von einem brutalen Lager ins nächste geschickt.
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Geboren wird Avraham Ary im Jahr 1928 in Bialystok, im Nordosten Polens . Er wächst mit drei Brüdern und einer Schwester in einer nicht streng religiösen Familie auf, sie leben in einer geschlossen jüdischen Umgebung. Bialystok hat damals 50 000 Einwohner, die Hälfte davon sind Juden. Wie in ganz Polen gibt es auch in Arys Heimatort Antisemitismus. Als er zehn Jahre alt ist, stirbt seine Schwester bei einer Auseinandersetzung auf der Straße. Sie wird vom Stein eines Polen am Kopf getroffen. Als Jugendlicher schließt sich Ary einer zionistischen Jugendbewegung an, obwohl die Familie nicht zionistisch orientiert ist.
Familie Ary. Foto: privat
Im September 1939 besetzen die Deutschen Bialystok, die Familie versteckt sich. Eine Woche später treten die Deutschen die Stadt an die Russen ab. Die Deutschen werden mit Steinen beworfen, als sie abfahren, die Russen mit Blumen empfangen. Im Juni 1941 dann der Wendepunkt: Die Deutschen überfallen die Sowjetunion, Bialystok wird erneut von den Deutschen besetzt. „Meine Eltern wollten fliehen. Doch Straßen und Schienen wurden gesperrt. Die Bürger horteten Lebensmittel. Alle dachten, dass wir bald nichts mehr zu essen hätten. Nach wenigen Tagen mussten wir ins neu errichtete Ghetto. Doch vorher haben die Deutschen das jüdische Viertel und die große Synagoge abgebrannt, in die sie die 2000 bis 3000 Juden gesperrt und mitverbrannt haben“, wird Ary in einem Dokument zitiert, das der ehemalige KZ-Gedenkstätten-Vorsitzende Eberhard Röhm nach einem Gespräch verfasst hat. Mit der Zeitung sprechen will Ary derzeit nicht, lässt sein Sohn Gil ausrichten. Man sei nach dem Beginn des Gaza-Kriegs von der deutschen Politik enttäuscht, schreibt sein Sohn Gil Ary.
Ary macht sich älter – und überlebt so
Es entsteht ein Zwangsghetto in Bialystok, dort leben 50 000 Juden auf engstem Raum. Der Familie Ary wird zu fünft ein Zimmer mit einer Fläche von neun Quadratmetern zugewiesen. Ary macht zu der Zeit eine Ausbildung als Schlosser. Im Februar 1943 werden 10 000 Ghettobewohner ins Vernichtungslager Treblinka deportiert, darunter auch Arys Bruder und seine Familie. Es kommt zu einem bewaffneten Aufstand im Ghetto, der von der SS blutig niedergeschlagen wird. Die SS will die Bewohner umsiedeln, fünf Tage lang wird gekämpft. Mitte August müssen sich die Bewohner im Hof sammeln und werden aufgeteilt.
Als Ary gefragt wird, wie alt er sei, macht er sich älter – und sagt, dass er 18 sei, dabei ist er erst 15 Jahre alt. „Ich habe mich neben meinen Vater gesetzt, wir saßen dort die ganze Nacht. Von Zeit zu Zeit schoss man mit Maschinengewehren über uns und am Morgen begannen die Transporte. Man brachte uns zur Bahnstation. Man drückte uns in die Waggons. Ich erinnere mich nicht, wie viele Leute in einem Waggon waren, aber es war sehr eng und sehr heiß. In den vorderen Waggons waren die Männer mit den großen Kindern, in den hinteren waren die Frauen und die kleinen Kinder. Und dann fuhren wir“, erinnert sich Ary.
Die Fahrt endet in Majdanek. Dort werden die Waggons mit den Frauen und den Kindern abgekoppelt, sie werden ins Vernichtungslager Treblinka weiter, wo sie umgebracht werden– darunter auch Arys Mutter und seine beiden jüngeren Brüder.
Zwölf Stunden Arbeit: tags oder nachts
In Majdanek werden Ary und sein Vater erneut selektiert und voneinander getrennt, bis sie sich schließlich in Blizyn wiedertreffen. „Unterwegs, Vater weinte auf dem ganzen Weg, hat er mir später erzählt, er machte sich solche Vorwürfe: ‚Wie konnte ich den Jungen allein lassen?’“ Umso größer die Freude, als sie sich in Blizyn wiedertreffen, sie umarmen und küssen sich. In Majdanek arbeitet Arys Vater als Schneider, Ary anfangs im Steinbruch, er muss schwer arbeiten.
Avraham Ary war lange Jahre bei der Marine in Israel. /privat
Doch der Vater erreicht, dass Ary eine leichtere Tätigkeit in einer Strickfabrik übernehmen kann. Als das Lager aufgelöst wird, kommen sie nach Auschwitz. Dort wird der Vater einer schweren Arbeit zugewiesen, Ary ist beim Müllkommando. Ary sieht seinen Vater nicht mehr, er stirbt in Auschwitz. Dann wird auch das Lager in Auschwitz aufgelöst – und Ary kommt nach Leonberg. „Hier in Leonberg arbeitete ich zwölf Stunden am Tag oder zwölf Stunden in der Nachtschicht“, schreibt Röhm über Arys Rede in Leonberg. Die Zeit zwischen den Schichten haben sie damit verbracht, vom Schlaflager zum Tunnel zu laufen und zurück, weil die Alliierten den Weg zum Tunnel des Öfteren bombardierten. „Meine Arbeit bestand darin, die Positionslichter an den Seiten der Flügel zu montieren“, beschreibt er. „Dafür wurde eine bestimmte Zeit vorgeschrieben. Wer das nicht einhalten konnte, wurde brutal geschlagen.“
Einmal fragt ihn ein älterer deutscher Aufpasser, der die Verantwortung für seine Arbeit hatte, was er verbrochen hatte, weil er doch so jung sei. „Ich bin hier gefangen, weil ich Jude bin“, sagte er darauf.
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Im April 1945 ist Ary nach der Auflösung des Leonberger KZ erst zu Fuß bis Ulm, dann im Güterwagen bis nach Kaufering (Bayern) unterwegs. Er landet schließlich im Außenlager in Allach, wo ihn amerikanische Truppen befreien. „Ich war 17 Jahre alt, allein, ohne Eltern und ohne Familie. Mein einziger Wunsch war, zurück in meine Geburtsstadt Bialystok zu kommen. Um zu erfahren, ob jemand aus meiner Familie den Holocaust überlebt hat.“
Doch keiner hat überlebt. Er erfährt, dass in Polen die Juden, die aus Deutschland zurückkommen, nicht willkommen sind – und geht wieder nach Deutschland. In einem Flüchtlingslager im bayrischen Deggendorf werden er und viele weitere darauf vorbereitet, nach Erez-Israel einzuwandern. Dafür werden sie unterrichtet. Ary wird Seemann und geht zur Marine.
Kurz nach der israelischen Staatsgründung 1948 geht er schließlich nach Israel, wo er sofort eingezogen wird und im israelischen Unabhängigkeitskrieg kämpft. „Durch meine Tätigkeit in der Armee entwickelte ich einen Nationalstolz, den meine Eltern und das jüdische Volk nicht erleben durften“, sagt er.
Kurz darauf heiratet er, er bekommt zwei Kinder. Er ist 26 Jahre bei der Marine, nimmt an allen Kriegen bis 1978 teil.
Nach seiner Entlassung vom Militär arbeitet er noch mehrere Jahre weiter, wird Sicherheitsbeauftragter in Haifa. Nachdem er mit 65 Jahren in den Ruhestand geht, ist er in Vollzeit für seine Enkelkinder zuständig.
80 Jahre Ende KZ Leonberg
KZ-Außenlager Leonberg
Von April 1944 bis April 1945 waren im Leonberger Arbeitslager rund 5000 Häftlinge untergebracht. Die Häftlinge mussten im alten Engelbergtunnel für die Augsburger Firma Messerschmitt arbeiten. 389 Häftlinge starben in Leonberg, viele weitere kamen in Sterbelagern, anderen Lagern oder auf der Fahrt dorthin ums Leben.
LKZ-Reihe
In mehreren Beiträgen wollen wir bis April – 80 Jahre nach dem Ende des Lagers – auf das dunkelste Kapitel der Leonberger Stadtgeschichte blicken. Im ersten Beitrag ging es um den Mitbegründer der KZ-Gedenkstätte, Eberhard Röhm, der viele historische Werke zum Leonberger Außenlager veröffentlicht hat und eine Datenbank mit den Namen der KZ-Häftlinge führt. In den weiteren Beiträgen kommen Hinterbliebene von ehemaligen KZ-Häftlingen zu Wort und erinnern sich an ihre Angehörigen und ihre Zeit in Leonberg. Zum Schluss begleiten wir eine Schulklasse auf dem Weg der Erinnerung in Leonberg.