Mit Musik haben sie ihr Leben gerettet
Im „Mädchenorchester von Auschwitz“ sind junge Frauen dem Tod entgangen. Dazu gibt es am Sonntag einen Vortrag
Leonberger Kreiszeitung, 3. Mai 2014
Im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gab es vom Juni 1943 bis Ende 19 ein Orchester, in dem ausschließlich weibliche Häftlinge spielten. Die jungen Frauen waren aus allen von den Nazi besetzten Ländern nach Auschwitz zu ihrer Vernichtung deportiert worden.
Doch sie hatten Glück, wenn sie ein Orchesterinstrument so gut spielen konnten, dass ihr Können sie vor dem sicheren Tod bewahrte. Walther Erbacher, Leonberger Komponist und Musiktheoretiker, hält am Sonntag, 4. Mai, um 15 Uhr in der Bibliothek im Samariterstift in der Seestraße den Hauptvortrag zum Thema „Das Mädchenorchester von Auschwitz". Im Anschluss daran stellt Linde Beer einige von der KZ-Initiative neu erworbene Bücher vor. Herr Erbacher, Sie haben vor einigen Wochen in der Leonberger KZ-Gedenkstätteninitiative einen Vortrag über die Gleichschaltung der Musik im Nationalsozialismus gehalten, den viele hören wollten. Kommt man als Musiktheoretiker und Deutscher automatisch irgendwann auf das Thema "Braune Töne"?
Das kommt auf den eigenen Kompass an. Bei meiner Herkunft ist das fast zwangsläufig. Mein Vater hat als Leiter des Archiv der Badischen Landeskirche eine ganze Reihe von Forschungsprojekten zur Rolle der evangelischen Kirche im Nationalsozialismus geleitet. Daher wurde auch zu Hause über diese Vorkommnisse gesprochen. Übrigens spielte in meiner Familie das Thema Kirche und Staat seit dem Dreißigjährigen Krieg immer mit. Von diesem Zeitpunkt an bis hin zu meinem Vater zog sich eine Kette von einem Theologen zum nächsten ohne Lücke durch. Ich bin der erste Nicht-Theologe. Übrigens ganz seit ganz seltsam: In dieser riesigen Pfarrerfamilie, wahrscheinlich der größten in Baden, voll sich in meiner Generation ein Wechsel.
Die Musiker kommen. Vieles, was mit Musik zu tun hat, liegt bei 1hnen auf der Hand. Doch wie kamen Sie zum Thema "Mädchenorchester in Auschwitz«? Linde Beer von der KZ-Gedenkinitiative, die die KZ-Bibliothek leitet und eine Vortragsreihe betreut, hat mich im Anschluss in die „Braunen Töne" gefragt, ob ich zu dem Thema einen Vortrag halten könnte. Eine Zusage fiel mir auch deswegen leicht, weil ich mich als Komponist immer wieder mit jüdischem Leben und jüdischer Geschichte kritisch auseinandergesetzt habe. Außerdem war ich am Tatort Auschwitz.
Warum ist so ein Mädchenorchester im Vernichtungslager entstanden? Die Geschichte selbst ist eigentlich ganz simpel: Die Mädchen mussten tagein, tagaus spielen. Jeder Tagesablauf war dem anderen gleich, es sei denn, irgendeine Nazigröße hatte sich angesagt. Sonst gilt: Nichts war für die KZ-Schergen nach „anstrengendem Dienst" so entspannend wie der Auftritt der Mädchen. Für diese „Herren der Herrenrasse« war das eine unverdächtige Art, sich den jungen Frauen nahe zu fühlen.
Wann sonst durfte man unverdächtig solange eine junge Jüdin anglotzen und seine Fantasien laufen lassen? Wie schafften es die Mädchen, ins Orchester zu kommen? Die Plätze waren doch sicher heiß begehrt. Rein durfte im Prinzip jede, die ein Probespiel bestand, ein Musikinstrument gut bis sehr gut spielen konnte und deren Instrument im Orchester gerade Mangelware war. Nur stellen Sie sich jetzt bloß nicht vor, dass die Bewerberinnen sich gegenseitig auf den Füßen standen.
Die Balance im Klang musste schon gewährleistet bleiben. Sie können keine dreißig Geigen gegen ein Cello spielen lassen. Wie kann man sich die Arbeit im Mädchenorchester vorstellen? Für die jungen Frauen war das Orchester eine Nische, in der sie überleben konnten. Diese Nische schützte sie vor „Vernichtung durch Arbeit" und dem Gas. Das Orchester ist im Juni 1943 auf Befehl der SS zusammengestellt worden. Von den drei aufeinanderfolgenden Leiterinnen war Alma Ros, die Nichte Gustav Malers, die Überragende. Im Orchester waren von Beginn an bis zur Befreiung des Lagers durch die Rote Armee 54 Musikerinnen tätig.
Sie mussten das ganze Jahr bei jedem Wetter am Lagertor spielen, wenn die Arbeitskolonnen der Häftlinge in Fünferreihen im Gleichschritt an ihnen vorbeimarschierten. Und sie spielten am Abend, wenn die Häftlinge zurückkamen. Und natürlich jeden Abend im Casino vor einer entfesselten, meist besoffenen Soldatenschar. Welche Erkenntnisse haben Sie für sich aus der Beschäftigung mit dem Thema gezogen? Wahrscheinlich zunächst mal dieselben wie jeder andere auch.
Doch wenn ich mich ganz vertiefend mit einem solchen Thema beschäftige, dann bin ich kein Historiker - obwohl ein Musiktheoretiker viel mit Dingen zu tun hat, die in der Vergangenheit liegen - dann bin ich nur Komponist Dann bin ich die Quelle, der Lauf des Wassers bis zur Mündung.
Der Historiker geht den umgekehrten Weg, indem er von der Mündung aus flussaufwärts bis zur Quelle geht. Auf diese Weise habe ich unter anderen „jüdischen" Stücken ein Streichtrio über die erste Flucht eines Auschwitzer Häftlings geschrieben, ein beklemmend kurzes Stück. Das ist dann meine Art, gegen das Vergessen anzukämpfen.
Das Gespräch führte Barbara Bross-Winkler.