Risse in der Seele

von Karl Geibel
Leonberger Kreiszeitung, 7. Mai 2005

Was sind das für wichtige Tage in Leonberg, in denen über "nur ein Jahr" in der 754-jährigen Geschichte gedacht und diskutiert wird. Es geht um mehr als "nur" um das eine Jahr. Es geht um eine Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinreicht und damit Zukunft hat. Dieses Jahr wiegt schwer.

Der Autobahntunnel wurde zur Produktionsstätte der Rüstungsindustrie. In ihm arbeiteten KZ-Häftlinge unter elendigen Bedingungen. Die verbrecherischen Seiten des Nationalsozialismus erreichten Leonberg.

Düstere Seiten kannte Leonberg schon zuvor, die Stadt einer Nazi-Zeitung, eines Nazi-Ministers, der Ehrenbürger wurde. Wie lange hat es gedauert, bis in die jüngste Vergangenheit hinein, bis der Gemeinderat diesem Täter die Ehrenbürgerschaft aberkannte. Noch lange wird es dauern, bis der Worttäter Lämmle, der am gesellschaftliche Klima der Unmenschen mit Versmaßen mitgestaltete, nicht mehr Namenspatron einer Schule sein kann. In der deutschen Geschichte wird es niemals eine Zeit für Verdrängen, Vergessen, Verschweigen geben können.

Auch in unserer Stadt. Der mutigen Aufklärungsarbeit einer kleinen kirchlichen Gruppe, der Geschichtswerkstatt und der Gedenkstätteninitiative ist es zu verdanken, dass die Schatten im Bewusstsein heller werden. Es ist nicht die Menge des Verbrechens, die unbegreiflich bleibt, sondern das einzelne Gesicht des Leidenden, der unser Mitempfinden erregt. Weil in der Folge des Verbrechens das Leid für Millionen kam, die vertrieben und verschleppt wurden.

Die Geschichte des Konzentrationslagers in Leonberg ist eine Geschichte des Terrors und des Todes, auch der Mitwisserschaft und Gleichgültigkeit. Jeder der 3000 Männer im KZ Leonberg ist ein einzigartiges und einmaliges Leben, hat ein Gesicht, trägt einen Namen. Auch im Tod. Wir erinnern uns am Tag der Befreiung an sie und verweisen, weil wir uns dem nicht Fassbarem stellen. Jeder von uns kennt Risse in seiner Seele. Die verbrecherische Politik Hitlers mündete in einen Krieg mit über 50 Millionen Toten, in sechs Millionen in Vernichtungslagern Getöteten, endete in der Zerstörung Europas, das - wie Deutschland - in Not und Elend zurückblieb.

Die Nazis griffen in jeden Lebensbereich hinein. Auch in Leonberg. Sie trafen auch die Kinder, die erst nach der Befreiung in die Schule kamen und heute die Verantwortlichen in Deutschland sind. Die meisten wuchsen in Armut und Angst, ohne Väter oder mit Krüppeln auf. Krieg ist ein Wort, das für sie heute noch gegenwärtig ist. Auch wenn, einzigartig in unserer Geschichte, erstmals drei Generationen nacheinander in Frieden leben. Viele Wissenschaftler und Künstler fehlten für den geistigen Aufbau Deutschlands, weil sie verjagt oder getötet worden waren. Auch diese Menschen haben Namen und Gesichter.

An das alles denken wir am 8. Mai. Unwissenheit erzeugt Misstrauen. Misstrauen erzeugt Hass. Hass erzeugt Gewalttaten. Deshalb muss alles getan werden, um zu wissen. Um Bewusstsein zu schaffen, dass es nicht um Schuld und Erschrecken geht. Sondern um die Erkenntnis, dass ein innerer Zusammenhang zwischen den Gepeinigten, Missbrauchten, Getöteten, Vertriebenen besteht. Auch zwischen Judentum und Christentum, die aus einer gemeinsamen Wurzel entstanden sind. Wer diesen Zusammenhang begreift, kann freudvoll darauf verweisen, dass jeder fünfte in Leonberg ein Ausländer ist und friedlich lebt. Dass wir in Frieden und Freundschaft mit den Menschen unserer Partnerstädte zusammen kommen.

Hass ist wie Rost, er frisst sich durch die Seele. Vergessen gibt dem Hass eine Chance. Es ist deshalb gut, dass die Überlebenden des KZ nach Leonberg gekommen sind. Von unserem Bewusstsein zu erfahren mindert nicht die Schmerzen, die sie angesichts der Tunnelröhre erneut empfinden. Risse in der Seele können heilen, aber es bleiben Narben. Der 8. Mai ist der Tag, zu fragen, ob wir alles getan haben, damit so etwas nicht mehr geschieht.


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