Rundbrief KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg September 2003

Liebe Mitglieder und Interessierte an der Gedenkstättenarbeit in Leonberg,

der Herbst steht für unsere Initiative ganz im Zeichen einer größeren Zahl interessanter Vorträge parallel zu zwei Ausstellungen und zum Teil auch im Zusammenwirken mit mehreren Institutionen wie dem Stadtmuseum, der Volkshochschule, der Ev. Erwachsenbildung. (Siehe Termine!)


Zwei Ausstellungen

► Die Ausstellung von Bildern des ehemaligen Leonberger KZ-Häftlings Moshe Neufeld aus Israel im Stadtmuseum läuft bis 16. November 2003. (Di. bis Do. 14-17 Uhr, So. 13-18 Uhr)
Gezeigt werden eindrückliche Malereien, in denen der aus Ungarn stammende Moshe Neufeld seine Erlebnisse in Auschwitz und in andern deutschen Konzentrationslagern verarbeitet hat, ebenso Bilder aus dem sonstigen Schaffen des Künstlers.
Während der Ausstellung können Besucher ein im Auftrag der KZ-Gedenkstätteninitiative von Vaclav Reischl hergestelltes Video „Moshe Neufeld“ auf einem Monitor abrufen. Der Film, in dem Moshe Neufeld aus seinem Leben und Schaffen erzählt, ist bei einem Besuch im Kibbuz Barkai/Israel entstanden.

► Eine Fotoausstellung „Auschwitz“ im Haus der Begegnung, Eltinger Str. 23, bis 10 Oktober 2003 (tagsüber frei zugänglich)
Der Fotograf Markus Jahn begleitete im Jahr 2002 eine Gruppe Jugendlicher aus betreuten Wohnformen aus dem Landkreis Böblingen eine Woche lang nach Auschwitz. 40 anspruchsvolle, ruhige, statische Schwarz-Weiß-Aufnahmen strahlen die Menschenfeindlichkeit des Orts aus.
Während der Ausstellung kann auch eine Dia-Schau mit Auschwitz-Fotografien von Markus Grob abgerufen werden, die während der Auschwitzreise der KZ-Gedenkstätteninitiative im Oktober letzten Jahres entstanden sind.


Kurzinformationen

Antrag an die Stadt zur Errichtung der Gedenkstätte gestellt

Der Vorstand hat inzwischen an die Stadt Leonberg als Eigentümerin der alten Autobahntrasse den Antrag zur Errichtung der von uns geplanten Gedenkstätte vor dem Engelbergtunnel gestellt. Sobald wir eine Antwort haben und es zu konkreten Verhandlungen mit der Stadt gekommen ist, werden wir eine Mitgliederversammlung einberufen, um die Mitglieder zu informieren und mit ihnen über die Gestaltung im einzelnen zu beraten.


Kleiner Raum zum Lagern von Gegenständen gesucht

Wir suchen einen kleinen Raum, in dem wir kostenlos Gegenstände vom KZ und der Messerschmittproduktion vorübergehend sicher lagern können.


Termine 2003

Dienstag, 23. September 2003, 19.30 Uhr, Haus der Begegnung
(gemeinsame Veranstaltung von KZ-Gedenkstätteninitiative, Evang. Erwachsenenbildung, VHS und Stadtmuseum)

Vortrag Prof. Dr. Wolf Ritscher / Esslingen:

Auschwitz reicht bis ins zweite und dritte Glied - Traumatisierungen in den Familien der Opfer des Nationalsozialismus.

Prof. Ritscher ist Psychotherapeut und hat sich eingehend im Rahmen eines Hochschulprojekts mit der Erziehung nach Auschwitz befasst. In seinem Vortrag geht er Fragen nach, die sich im Zusammenhang der von Juni bis November im Stadtmuseum gezeigten Holocaust-Bilder von Moshe Neufeld stellen. Wie nicht nur die Psychologie inzwischen weiß, sondern auch Gespräche mit den Familien ehemaliger Leonberger KZ-Häftlinge zeigen, reichen die Prägungen durch den Holocaust bei Opfern – ähnlich auch bei Tätern - bis zu deren Kindern und Enkeln. Es ist Zeit, sich dessen bewusst zu werden. Abendkasse: 3 €.

Die Moshe-Neufeld-Ausstellung im Stadtmuseum wird wegen des Vortrags an diesem Tag ausnahmsweise bis 19.15 Uhr geöffnet sein. Um 17.00 Uhr bietet der Leiter des Stadtmuseum, Klaus Konz, eine Führung durch die Ausstellung an mit Kurzvortrag über die Deportation der ungarischen Juden nach Auschwitz, an der Moshe Neufeld teilgenommen hatte.


Donnerstag, 25. September 2003, 19.30 Uhr, vhs, Neuköllner Straße, Konferenzraum
(Veranstaltung von Volkshochschule und Evang. Erwachsenenbildung)
mit Prof. Dr. Axel Kuhn
Vortrag: „Der moderne Antisemitismus in Deutschland 1871-1945“
Dr. Axel Kuhn ist Historiker an der Universität Stuttgart.
Bis ins Mittelalter zurückreichend entstand der Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer neuen, modernen Form. In der Weimarer Republik wurde er zu einem Sammelbecken für alle, die in radikaler Ablehnung zur parlamentarischen Demokratie standen. In dieser Form übernahmen ihn die Nationalsozialisten und setzten ihn rigoros in die Tat um. Abendkasse: 3 €.


Montag, 29. September 2003, 19.30, Haus der Begegnung
(Veranstaltung der Evang. Erwachsenbildung im Rahmen der Reihe „Brennpunkt Israel“)
mit Zeev Goldreich-Fernbach
Vortrag: „Die Entwicklung des Staates Israel von den Anfängen bis heute“
Zeev Goldreich-Fernbach ist Mitglied unserer Gedenkstätteninitiative. Er lebte während des Dritten Reichs in Palästina/Israel, wohin er als Jude mit seinen Eltern emigriert war. Ihm verdanken wir zahlreiche Übersetzungen von Zeitzeugeninterviews ehemaliger KZ-Häftlinge aus dem Hebräischen.
Zeev Goldreich-Fernbach gibt einen Überblick der Geschichte Israels und kann aus eigenem Erleben erzählen. Abendkasse: 3 €


Dienstag, 7. Oktober 2003, 19.30 Uhr, Haus der Begegnung
(Veranstaltung der Evang. Erwachsenenbildung)
mit Ludwig Bez, Leiter des Pädagogisch-Kulturellen-Centrums Freudental
Vortrag: „Orte des Erinnerns – ihre Bedeutung für Menschenrechte, Toleranz und den Umgang mit kultureller Vielfalt“
Der Leiter des PKC Freudental spricht über die Bedeutung des bewussten Umgangs mit der Vergangenheit für die humane Zukunftsgestaltung Europas. Abendkasse: 3 €


Sonntag, 9. November 2003, 15.30 Uhr, Stadtmuseum
mit Christina Ossowski, Leiterin des Schul-, Kultur- und Sportamtes der Stadt Leonberg
Führung durch die Ausstellung Moshe Neufeld
Die letzte Gelegenheit einer Führung durch die bedeutende Ausstellung, ehe sie am 16. November 2003 beendet wird.


Donnerstag, 20. November 2003, 20.00 Uhr, Haus der Begegnung
(Veranstaltung der Evang. Erwachsenenbildung)
mit Klaus Beer, Richter i.R. und Vorstandsmitglied der KZ-Gedenkstätteninitiative
Ein Zigeuner kam mit Geige zum Gerichtstermin
Ein Rückblick auf die „Wiedergutmachung“ von NS-Unrecht nach dem Zweiten Weltkrieg. Klaus Beer berichtet von Begegnungen als Stuttgarter Entschädigungsrichter mit den Antragstellern und Klägern: den im „Dritten Reich“ verfolgten Sozis, Kommunisten, Juden, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, sogenannten Asozialen. Abendkasse: 3 €


In eigener Sache: E-Mail-Versand

Bitte nennen Sie uns Ihre E-Mail-Adresse

Der Versand des Rundbriefes kostet die KZ-Gedenkstätteninitiative verhältnismäßig viel Geld. Wir bitten darum alle Mitglieder und Interessierte, uns – soweit vorhanden - ihre E-Mail-Adresse anzugeben, sodass wir den Betreffenden in Zukunft den Rundbrief und weitere aktuelle Informationen kostengünstig per E-Mail zuschicken können.

Eine kurze Nachricht per Mail an Eberhard Röhm (eberhard.roehm@t-online.de) genügt.

Wir versichern, dass wir die E-Mail-Adresse nicht weiter geben, sondern ausschließlich zur Übermittlung unserer Informationen an Sie nutzen. Wer den Rundbrief und andere Informationen nicht mehr per Mail bekommen möchte, braucht dies uns nur rückzumelden.

Der Rundbrief wie viele andere Informationen können natürlich nach wie vor auch hier auf der Homepage abgerufen werden.


Marcel Gillen zum Gedenken

Im Mai erreichte uns die Nachricht vom Tod des letzten, noch lebenden ehemaligen Leonberger KZ-Häftlings aus Luxemburg. Im folgenden die Übersetzung eines in luxemburgischer Sprache verfassten und in der Luxemburger Widerstandszeitschrift "RAPPEL" (Nr. 2/2003) veröffentlichten Nachrufes.

Einer der ältesten Luxemburger ehemaligen Häftlinge der Konzentrationslager Hinzert, Natzweiler, Dachau und Leonberg, Marcel Gillen aus Esch/Alzette, hat uns am 5. Januar 2003 für immer verlassen. Am 16. Januar 1913 in Wahl geboren, hätte er ein paar Wochen später das schöne Alter von 90 Jahren feiern können. Dieses Ziel hat er jedoch nicht erreicht.
Marcel Gillen war am 5. Dezember 1942 in Esch verhaftet worden. Im Escher Sitz der Gestapo, in der Villa Seligmann, musste er während fünf Tagen die Gestapoverhöre über sich ergehen lassen. Ihm wurde vorgeworfen, er hätte russische Gefangene und andere Untergetauchte an seinem Arbeitsplatz im Eisenwerk Esch-Belval heimlich mit Essen versorgt. Auch wegen anderer „deutschfeindlichen Tätigkeiten“ wurde er verdächtigt, unter anderem hieß es, er hätte sich in einer der verbotenen Widerstandsgruppen betätigt.
Das Gefängnis in Luxemburg-Grund, wo er danach einen Monat lang bleiben musste, war die nächste Etappe auf seinem langen Leidensweg als politischer Gefangener der Nazis.
Am 7. Januar 1943 kam Marcel von Luxemburg-Grund ins SS-Sonderlager Hinzert und von dort am 20. Januar 1943, mit dem ersten großen Transport der Luxemburger, in das KZ Natzweiler (Häftlingsnununer 2236).
In Natzweiler landete Marcel Gillen, wie ein großer Teil seiner Luxemburger Kameraden, im Steinbruchkommando. Die ersten Monate im Steinbruch waren sehr schwer für Marcel: Die Arbeit mit den Steinen, mit Schippe und Hacke und Schubkarren, zehrte sehr an seinen körperlichen Reserven. Die Kälte, der Regen und der Wind haben seine Gesundheit strapaziert. Und dabei taten die SS-Leute ihr bestes um ihm das Leben zu verbittern.
Nach einigen Monaten, als ein großer Teil der Häftlinge unter Dach, in den Hallen im Steinbruch, Flugzeugmotoren zerlegen mussten, kam Marcel ebenfalls in eine dieser Arbeitshallen. Hier war das Leben weniger schwer. Hier, im Kreise einer Reihe von Luxemburgern und anderer Kameraden, war es zum Aushalten. Dies wurde insbesondere dadurch ermöglicht, dass in der Zwischenzeit Lebensmittelpakete aus der Heimat ankamen.. Heimlich wurden damals auch in der Halle 5 des Steinbruchs, wo Marcel Gillen mit Lucien Clesse, Jos Hintgen und Jos Paulus zusammen war, diese Lebensmittel verteilt und bearbeitet, es wurde sogar gekocht. Hierbei soll Marcel, wie Lucien Clesse berichtete, eine Hauptrolle gespielt haben ...
Im September 1944, als das Lager Natzweiler evakuiert wurde, kam Marcel Gillen am 21. September nach Dachau (Häftlingsnummer 111 074). Hier blieb er jedoch nur einige Tage. Schon am 1. Oktober befand er sich in einem Nebenlager des KZ Natzweiler in Leonberg, bei Stuttgart (neue Natzweiler Häftlingsnummer 29 223). Im selben Transport scheinen auch einige andere Luxemburger gewesen zu sein, die wahrscheinlich aber nicht lange im Lager Leonberg verblieben. Ein paar Monate später nämlich, als Camille Schmit vom Natzweiler Nebenlager Heidenheim nach Leonberg verlegt wurde, hat dieser dort nur zwei Luxemburger, Marcel Gillen und Léon Steinmetz, angetroffen. Wie Camille Schmit später berichtete, konnten sich hier die drei Luxemburger gegenseitig helfen, weil sie, jeder auf seine Art und Weise, sich heimlich extra Lebensmittel verschaffen konnten.
Im April 1945, als die alliierten Truppen näher an Leonberg herankamen, wurde Marcel Gillen zusammen mit dem größten Teil der Leonberger Häftlinge nach Kaufering evakuiert, wo sie in einem aufgelösten Dachauer Nebenlager einige Tage verbrachten. Das war für Marcel Gillen die letzte Etappe, ehe er mit einem der vielen Todesmärsche weiter in süd-östlicher Richtung verschleppt wurde. Auf diesem Marsch wurde Marcel Gillen am 27. April 1945 schließlich von den Amerikanern befreit.
Die Gesundheit von Marcel Gillen hatte in den letzten Monaten, besonders auf den Evakuierungsmärschen, so sehr gelitten, dass er noch während Monaten bei den amerikanischen Befreiern verpflegt werden musste. Erst am 13. August 1945 kam er endlich nach Hause.
Nach dem Kriege hielt Marcel Gillen nicht sehr viele Kontakte aufrecht mit ehemaligen KZ-Kameraden. Mit seinen Kameraden des Natzweiler Lagers war er jedoch während zahlreichen Jahren in ihrer Amicale zusammen. Die Kontakte mit seinen KZ-Kameraden aus der engeren Umgebung wurden mit den Jahren etwas seltener.
Im Februar 1970 wurde Marcel Gillen der offizielle Titel "Widerstandskämpfer" (Titre de Résistant) zuerkannt.
Dieser Rückblick auf den langen Weg von Marcel Gillen durch Gefängnisse und Kazette soll für seine Kameraden und Freunde aus der Resistenz und aus seinem weiteren Bekanntenkreis ein Anstoß sein, seinen Einsatz und seine Opfer für eine gute Sache nicht zu vergessen.
Seiner Familie drücken wir unsere tiefen Gefühle von Beileid aus.
Ernest Gillen, Luxemburg (zugleich Übersetzer)


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