Selbst 60 Jahre nach dem Martyrium sind die Wunden in den Seelen immer noch offen

Interviews mit den ehemaligen Häftlingen
Leonberger Kreiszeitung, 9. Mai 2005

Selbst 60 Jahre nach dem Martyrium sind die Wunden in den Seelen immer noch offen
Neun ehemalige Häftlinge des KZLeonberg, ein ehemaliger Gestapo-Häftling sowie ein ehemaliger Zwangsarbeiter aus dem Osten haben am Wochenende an der feierlichen Enthüllung der Namenswand am Engelbergtunnel teilgenommen.

Michel Didier - Schläge der Kapos ruinierten Gesundheit

Für Michel Didier aus Charmes in den Vogesen gibt es zwei Gründe, warum die ehemaligen KZ-Häftlinge so lange damit warteten, über ihre Tage und Monate im KZ Leonberg zu sprechen. "Sie hatten Angst, dass ihnen niemand glauben würde, weil es so schrecklich war." Zum anderen hätten sie wohl eher versucht, zu vergessen anstatt aufzuwärmen, was sie erlebt und erlitten hätten.

Didier, heute 77 Jahre alt, wurde zusammen mit Albert Montal und Michel Fouchécourt über Dachau aus der französischen Heimat nach Leonberg verschleppt. Trotz dieses Lebensweges habe er nie gesagt, die Deutschen seien schäbig, sagt sein Sohn Bruno Didier, der ihn nach Leonberg begleitet hat. Wichtig ist Didier, dass der Friede in Europa auf der Basis der Europäischen Union schon seit 60 Jahren Bestand hat.

Michel Didier kam als 17-Jähriger in die Fänge der SS. In Gaggenau musste er für Daimler-Benz vier Wochen Zwangsarbeit verrichten. Durch die Schläge der Kapos und die langen Appelle wurde seine Gesundheit ruiniert. Als er im Frühjahr 1945 zurück im KZ Dachau war, erkrankte er an Thyphus.

Mordechai Nojovits - Leonberg war das schlimmste Lager

"Meine Enkel sind meine Rache an Hitler. Ich habe überlebt und er nicht", sagt der 1925 in Nordsiebenbürgen geborene Mordechai Nojovits. Seine Mutter Miriam, geborene Heller, stammte aus einer Levitenfamilie in der elften Generation. Im Mai 1944 wurde die Familie nach Auschwitz deportiert.

Auf der Rampe in Birkenau wurden sie getrennt, die Selektion hatte Dr. Mengele vorgenommen. Die Brüder Joseph und Moshe, die Schwester Lea und die Mutter wurden sofort umgebracht. Die Schwester Frieda Elsi und der Bruder Itzhak überlebten. Nach der Auflösung von Auschwitz kam Mordechai Nojovits über die KZ Groß-Rosen, Sachsenhausen, Flossenbürg am 16. März 1945 nach Leonberg.

Dies sei das schlimmste Lager gewesen, denn es gab nur eine Scheibe Brot zu essen am Tag und ein wenig Suppe. Im Sommer 1945 kehrt er nach Siebenbürgen zurück, wo er den Vater und die Schwester fand. Da man ihn zum rumänischen Militär einziehen wollte, floh der heute 79-Jährige. Nach einer langen Odyssee wanderte er 1947 nach Israel ein.

Pjiotr Kudrjaschow - Am Ort der Pein Freunde gefunden

Bilder von Menschen wie Elisabeth Dommes aus Gerlingen ("meine zweite Mutter"), die den Flüchtling in ihrem Haus versteckt und aufgepäppelt hatte oder der Meister in Wuppertal, der ihm unbemerkt ein Butterbrot und die Kleider seines an der Ostfront kämpfenden Sohnes heimlich zusteckte, damit er sonntags ausgehen konnte, sind in Pjiotr Wassiljewitsch Kudrjaschow lebendiger als die Pein, die er erdulden musste. Der ehemalige Zwangsarbeiter aus der Ukraine, der mit 15 Jahren nach Deutschland kam, wurde beim Bau der Tunnelfabrik eingesetzt. Aber auch an den Kapo erinnert er sich, der ihn brutal zusammengeschlagen hatte.

Einmal, weil er vor Mattigkeit umgefallen war und Zement verstreut hatte, oder weil er vor dem Lager Zigarettenkippen eingesammelt hatte. Nach seiner Befreiung ging der Ukrainer zur Roten Armee, um dann zu Hause, unter Stalin, als Vaterlandsverräter nach Sibirien deportiert zu werden. Heute hat der 78-Jährige viele Freunde in Leonberg, die gespendet und gesammelt haben, damit seine zweite Augenoperation finanziert werden kann.

Riccardo Goruppi - Hass ist nicht mehr vorhanden.

Alle zwei bis drei Jahre kommt Riccardo Goruppi nach Leonberg. Dann geht er auf den Friedhof an der Seestraße und danach auf den Blosenberg. Dort musste er als 18-Jähriger mitansehen, wie sein Vater Eduardo in ein Massengrab geworfen wurde. Der damals 49-Jährige war am 20. Februar 1945 an Typhus gestorben. Ende 1944 werden die beiden Widerstandskämpfer in ihrem Heimatdorf Prosecco bei Triest von SS und italienischen Faschisten verhaftet. An Silvester 1944 kommen sie nach Leonberg.

Beim Abtransport aus Leonberg Ende März 1945 hat auch Riccardo Goruppi hohes Fieber. Es geht in die Lager Dachau, Mühldorf und Kaufering. Der Güterzug, mit dem er dann Richtung Osten transportiert werden soll, kommt nach einem Tieffliegerbeschuss bei Schwabhausen zum Stehen. 170 Häftlinge kommen dabei ums Leben. Nach seiner Befreiung durch die Amerikaner verbringt Goruppi drei Monate im Krankenhaus. "Heute habe ich in Leonberg viele Freunde", sagt der mittlerweile 78-Jährige. "Es ist mir sehr wichtig, dass ich mich heute mit den Leonbergern ohne Hass unterhalten kann."

Piet Schultz - Als Polizist keine Juden verhaftet

Piet Schultz weigerte sich als Polizeibeamter, an Judenverhaftungen in seiner Heimat teilzunehmen. So musste der Polizeibeamte aus dem niederländischen Den Haag untertauchen. Am 16. Juni 1944 wurde er dennoch entdeckt. Mit 200 anderen Häftlingen wurde er über Augsburg nach Leonberg in das Gestapo-Lager "Kaserne" an der Rutesheimer Straße gebracht.

Bis zum Kriegsende musste er dort Zwangsarbeit für verschiedene Baufirmen leisten, gelegentlich im Tunnel Sand und Kies holen. "Es war schlechte Luft, Gestank und Lärm. Die Häftlinge wurden gequält und angeschrien. Auch wir Zwangsarbeiter hatten Angst", berichtet der heute 83-Jährige.

Als in der "Kaserne" einige Holländer an Typhus starben, wurden die anderen über Wochen unter dem Dach in Zwangsquarantäne gehalten. Der Gerlinger Bauunternehmer Weidle, dem er zeitweise zugeteilt war, beschäftigte Schultz eine Zeit lang im Büro. Zu ihm floh Schultz in den letzten Kriegstagen zusammen mit einem Freund. Heute lebt er in Den Haag als Polizeioffizier im Ruhestand.

Albert Montal - Junge Menschen tragen keine Schuld

Mit gerade 15 Jahren wurde Albert Montal zusammen mit seinem älteren Bruder, mit Michel Didier und Michel Fouchécourt am 5. September 1944 bei einer SS-Razzia in seinem Heimatort Charmes festgenommen, weil er sich zuvor der Résistance angeschlossen hatte. Die vier Männer wurden über die Sicherungslager Schirmeck (Elsass) und Rotenfels (Gaggenau) am 9. Oktober 1944 nach Dachau deportiert.

Während Montals Bruder nach Auschwitz transportiert wurde, kam der heute 75-Jährige nach Leonberg. Sein Beruf führte ihn nach dem Krieg immer wieder nach Reutlingen. Den Weg nach Leonberg fand er bis vor etwa sechs Jahren nicht. "Meine Route führte nicht durch den Tunnel", erklärt er.

Gut erinnert sich Albert Montal an das Weihnachtsfest, das er 1944 arbeitend im Tunnel verbringen musste. Gerade eine halbe Stunde durften die Zwangsarbeiter aussetzen, ehe der Betrieb wieder weiterging. Der jungen Generation in Deutschland könne man die Schuld an den Verbrechen nicht geben. Den Nationalsozialisten aber könne nicht verziehen werden. "Das geht nicht."

Rado Svageli und Julij Logar - Am schrecklichsten waren die Transporte

Die beiden Slowenen Rado Svageli und Julij Logar kämpften im Zweiten Weltkrieg erst in der italienischen Armee an der Seite des Deutschen Reiches, dann für Titos Partisanen.

Als solche wurden beide im November 1944 von den Deutschen verhaftet und nach Dachau deportiert. Am 31. Dezember 1944 kamen sie mit dem größten Transport von Dachau nach Leonberg. "Das Schlimmste für mich waren diese Transporte", erinnert sich Julij Logar. Die Enge in den unbeheizten Waggons und der Hunger während der Fahrt hat der 81-Jährige nicht vergessen.

Weil sein Frau Lehrerin von Beruf ist, hat er über seine Erlebnisse im KZ Leonberg in der Schule in Slowenien berichtet. Die Tränen schießen dem 83-jährigen Rado Svageli in die Augen, als er an die Stätte seiner Pein zurückkommt. Er habe vergeben, aber nicht vergessen. Zu Hause hat er nie über die Zeit in Leonberg geredet. "Ich kann nicht mehr hassen", sagt er. Sein Freund Julij Logar konnte selbst im Lager keinen Hass empfinden: "Man musste sich auf das Überleben konzentrieren."

Leo F. - Nach dem Krieg in Stuttgart geblieben

Leo F. wurde 1944 aus dem jüdischen Getto in seiner Heimatstadt Radom ins Arbeitslager Blizyn deportiert. Doch je näher die russische Armee heranrückte, um so weiter nach Westen evakuierten die Nazis den damals 21-jährigen Polen.

Anfang März 1945 kam Leo F. nach Leonberg. "Ich war hier nur vier Wochen", erzählt der heute 81-Jährige. "Wenn es mal keine Arbeit gab, dann musste man eben Backsteine zum Tunnel hochschleppen und dieselben Backsteine am nächsten Tag zurück", berichtet er von den Schikanen. Ende April wurde er nach Mühldorf und Dachau transportiert.

Sinnlos ging es tagelang in Viehwaggons umher, bis Leo F. in Tutzing am Starnberger See von den Alliierten befreit wurde. In sein Heimatland Polen kehrte Leo F. nach dem Krieg nicht zurück: "Dort herrschte Anarchie, es gab sogar Pogrome gegen Juden." Stattdessen ließ er sich in Stuttgart nieder, wo er viele Jahre einen Süßwaren- und Spirituosenhandel betrieb: "Ich bin seither oft nach Leonberg gekommen. Ich hatte ja Kunden hier."

Kamil Pixa - Die Nazis haben die "Sonne" umgebracht

Kamil Pixa war 19 Jahre alt, als die Nazis im März 1943 in Prag seine Familie in Sippenhaft nahm. Am 9. Oktober 1944 wurde seine Mutter Milada standrechtlich durch Genickschuss hingerichtet. Das Standrecht wurde nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich verhängt. In dem Gestapo-Gefängnis nannten die Häftlinge die Schauspielerin Milada Pixa die "Sonne", weil sie abends, wenn das Licht ausgemacht wurde, noch sang.

Der Vater, Jaroslav Pixa, einer der Köpfe des tschechischen Widerstand in Böhmen und Mähren, war den Schergen durchs Netz gegangen, und so musste die Familie büßen. Er wurde nach dem Krieg Ministerpräsident von Böhmen. "Ich bin nur durch Zufall am Leben geblieben, durch die Transporte, die mich von einem Lager ins andere brachten", ist der heute 82-Jährige überzeugt.

In Leonberg hatte er mit sechs deutschen Häftlingen, mit denen er aus Dachau gekommen war, einen Fluchtversuch gewagt. Sie wurden verraten und fürchterlich verprügelt. "Wir dachten, wir werden erhängt", erinnert sich Kamil Pixa, dem später aus Mühldorf die Flucht gelang.

Giuseppe Covacich - Mit der gesamten Familie verhaftet

Gemeinsam mit seinem Vater, seiner Mutter und seiner Schwester wurde der damals 19-jährige Giuseppe Covacich am 1. März 1944 von der politischen Polizei Italiens in seiner Heimatstadt Triest verhaftet, weil sie Slowenen waren. "Wir wurden gefoltert und geschlagen", erzählt der mittlerweile 80-Jährige. Mutter und Schwester wurden nach Auschwitz transportiert, Giuseppe Covacich und sein Vater über das Konzentrationslager Dachau nach Leonberg gebracht.

"Ich war von Juni 1944 bis Ende März 1945 hier in Leonberg und musste oben im Tunnel arbeiten", sagt Covacich. Sein Vater und er überlebten beide und konnten nach dem Krieg in ihre Heimat zurückkehren. Auch Mutter und Schwester entgingen dem Tod in Auschwitz mit viel Glück und kamen 1945 zurück nach Triest.

"Ich bin schon 1953 das erste Mal mit meiner Frau nach Leonberg zurückgekehrt", erzählt Covacich. Danach kam er erst 2001 im Juni und noch einmal im Oktober wieder. "Ich war sehr überrascht und glücklich über den warmen Empfang, schon 1953 und jetzt wieder", sagt Covacich.


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