Sie wurden nicht vergast, sie sind verhungert
von Iris Voltmann
Eric Spicer erzählt Schülern über sein Leben als Häftling des Leonberger Konzentrationslagers
Leonberger Kreiszeitung, 14. Juni 2006
Leonberg. Mit einem verschmitzten Lächeln betritt der 82-jährige Eric Spicer das geräumige Klassenzimmer. Der schmächtige Mann hat eine unglaublich positive Ausstrahlung. Und das, obwohl ihn mit Leonberg alles andere als gute Erinnerungen verbinden.
Nervosität merkt man dem 82-Jährigen nicht im Geringsten an. Mit der Hand fährt er sich durch das grau melierte Haar und nimmt dann neben Eberhard Röhm von der Gedenkstätteninitiative Platz. Rund 30 Schüler des Johannes-Kepler-Gymnasiums wurden für den Besuch des ehemaligen KZ-Häftlings ausgesucht. Neugierig mustern sie den Mann, der völlig offen auf die Jugendlichen zugeht. Keine bösen Worte - nur ein freundliches Lächeln. Und vor allem Interesse an dem, was aus dem Ort seines Leidens geworden ist.
Er sei 20 gewesen, als er in seiner ungarischen Heimat verhaftet wurde. Der einzige Sohn eines Ingenieurs hatte sich nach dem Einmarsch der Deutschen zu einem Streich überreden lassen. "Tod den deutschen Besatzern" sollte er auf eine Wand schreiben und tat das auch. Und damit fing der Leidensweg des jungen Mannes an. Denn nur zwei Wochen später wurde er verhaftet und über Budapest nach Dachau und später nach Leonberg gebracht. Die Schüler lauschten den Erzählungen des Zeitzeugen gebannt, stellten aber kaum Fragen. "Dafür war die Vorbereitungszeit einfach zu kurz", räumte Religionslehrer Ulrich Resch ein.
Eberhard Röhm besuchte am vergangenen Montag die Schüler und berichtete über das Leonberger Konzentrationslager und die Fabrik der Firma Messerschmitt im alten Engelbergtunnel. "In meiner Arbeitsgruppe musste ich mit Nieten die Tragflächen der Flugzeuge zusammenbauen", erzählt Eric Spicer weiter. So nennt er sich, seit er in Australien lebt. Vorher hieß er schlicht Spitzer. Er sei unglaublich erschöpft gewesen, als er in Leonberg ankam.
Die harten Zwölfstundenschichten waren kaum zu bewältigen. "Aber ein Kapo der Firma Messerschmitt hatte Sympathien für mich", erzählt er und streicht sich bei der Erinnerung mit dem Zeigefinger über seine Augenbrauen. Wenn Spicer vor Müdigkeit nicht mehr konnte, schloss der ihn für ein paar Stunden im Schrank ein. "Dort schlief und erholte ich mich dann stehend.
"Wie groß dieses Geschenk des Vorarbeiters war, lässt sich kaum nachvollziehen. Es ist eigentlich nur an dem warmen Unterton in Spicers Stimme zu hören. Vor allem drei Dinge sind ihm fest im Gedächtnis geblieben: Die ständigen Appelle, die nervenaufreibende Eile und das kärgliche Essen. Immer seien sie angebrüllt worden, erinnert er sich. "Schnell, schnell, schnell", brüllten die Aufseher ohne Pause. Und die Häftlinge rannten: zur Toilette, zur Arbeit und zum Essen. Und hatten dabei kaum noch Kraft. Denn die Mahlzeiten bestanden lediglich aus einer kargen Wassersuppe und ein wenig Brot. "Sie haben uns nicht vergast, aber sie ließen uns langsam verhungern", sagt Spicer nachdenklich und hat eine Geschichte dazu zu erzählen. Eines Tages sei er auf einer Bank gesessen und habe sich mit einem Freund unterhalten.
"Und plötzlich war der ganz still", erinnert er sich. Er stieß ihn mit der Hand an und der Freund fiel einfach tot von der Bank. Er war verhungert. Die Schüler schauten Spicer verstört an, doch der erzählte weiter. Zu der Schwäche sei der Maschinenlärm in den Tunnelröhren gekommen. Und eines Tages war das auch für Eric Spicer zu viel. Er brach bewusstlos zusammen und kam ins Krankenrevier.
Mittlerweile waren die Alliierten im Anmarsch. Er wurde nach Dachau zurückverlegt und auf einem Todesmarsch in die Alpen gelang ihm und einem Freund die Flucht. Bei Nacht und Nebel schlugen sie sich ins Unterholz und kamen nach Mittenwald. Die Qualen durch die Nazis waren damit vorbei und Spicers langer Weg nach Australien offen.