Verantwortungsvolles Hinschauen am Weg der Erinnerung

Leonberger Kreiszeitung, 14. August 2002

Preisgekrönte Aufsätze – Heute von Werner Ziegler

„Ein neuer Anfang“ – so hieß der Titel des 13. Schreibwettbewerbs des Kreisseniorenrates Böblingen. Unsere Leser schrieben 37 von 81 Erzählungen, sie stellten sieben von 17 Preisträgern. (6. Teil)

Wir Menschen können uns subjektiv das Recht herausnehmen, wegzuschauen, auszublenden, zu ignorieren - niemals dürfen wir aber sehend blind sein. So lebten einmal, unmittelbar bis zu dem Untergang von Brutalität und Unterdrückung in der Geburtsstadt des Philosophen Schelling 14 000 Menschen. 8000 Bürger als so genannte Volksgenossen, 6000 wurden als KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter zu Untermenschen erklärt. Letztere vegetierten rechtlos, heimatlos, schutzlos als ausgebeutete Sklaven der Rüstungsindustrie für die Barbarei der "Herrenmenschen'' unmenschlich vor sich hin. Während die KZ-Häftlinge unterirdisch im Engelbergtunnel schufteten, waren die Zwangsarbeiter überirdisch im gesamten Stadtgebiet verteilt. Immer und überall sichtbar für die ideologisch nicht Verblendeten, unsichtbar für all die Nichts-sehen-Wollenden . . .

Die Totenstille unterdrückter Geschichte wurde in Leonberg als Realität wieder lebendig . . . Ausgerechnet die permanenten Störenfriede des Jugendhauses brachten diese nie verheilte Wunde zum Aufbrechen. Als geduldete Minderheit waren sie die dominanten Impulsgeber zur Aufarbeitung unrühmlicher Vergangenheit, um aus anonymer Tragik namenloser Opfer Lebensläufe, Schicksale in Erinnerung zu rufen, ihnen Leben einzuhauchen und Würde zurückzugeben. Beim In-sich- Gehen der moralischen Verantwortung dieser Stadt wartete die lästige Aufmüpfigkeit auf eine Antwort. Kurz entschlossen war das Samariterstift Auftraggeber eines Gedenksteins für dessen belastetes Areal. Dieses Wachrütteln veranlasste eine kleine, gewissenhafte Bürgerschar, eine KZ-Gedenkstätteninitiative ins Leben zu rufen. Deren Mitgliederspektrum reichte von der VVN über SPD, den Grünen bis zu kirchlich engagierten Menschen. Bürgerliche Parteien? Fehlanzeige.

Durch Anregung dieser Initiative entstand in Zusammenarbeit mit Stadt und VHS im Oktober 1999 eine Geschichtswerkstatt zur systematisch-wissenschaftlichen Aufarbeitung einer in Vergessenheit geratenen lästigen Vergangenheit. Unglaubliches Engagement dieses kleinen Teams entschlüsselte akribisch die Anonymität von 2700 recherchierten Nummern der über 3000 KZ-Häftlinge und verlieh ihnen wieder Würde und Identität. Der Tod verschlang 389 überwiegend namentlich belegte Opfer, denen noch eine enorme Dunkelziffer bei den Todesmärschen entgegensteht. Diese Opfer wurden in Massengräbern in fremder Erde auf dem Blosenberg verscharrt.

Wer waren diese aus der Vergessenheit befreiten über 6000 geschundenen Menschen, die mit uns das Grauen der letzten Monate, Wochen und Tage kriegerischen Schreckens in dieser Stadt teilten? . . . Drei Tage vor dem Einmarsch der alliierten Truppen in Leonberg wurde in der Nacht zum 18. April das KZ-Lager geräumt, die Holzbaracken angezündet und die vier Tunneleingänge gesprengt. Für die ausgemergelten, meist kranken Häftlinge begann nun ein "Todesmarsch'', verbunden mit planlosen Irrfahrten, meist ohne Verpflegung, in die Lager Kaufering und Mühldorf in Bayern . . . Eine unbekannte Anzahl überlebte diesen Marsch in die Freiheit nicht, denn das unersättliche Grauen forderte nochmals einen letzten Preis.

Wo aber war nun "Heimat'' für die geretteten jüdischen KZ-Häftlinge, die in den Vernichtungslagern als Arbeitskraft auf der Todesrampe von ihren zur Vergasung verurteilten Angehörigen selektiert wurden? Ausgelöscht, vergast, verbrannt waren Familie und Heimat. Eine Fahrkarte, ein Ticket - wohin? Die überwiegend aus eigenen Mitteln finanzierte Spurensuche der KZ-Gedenkstätteninitiative nach überlebenden Häftlingen führte nach anfänglich zaghaftem Händedruck zu fruchtbaren Gesprächen in gastlicher Atmosphäre und unzähligen wertvollen Erkenntnissen. Jeder Besuch, jedes Gespräch mit den Opfern war immer ein mit Leid und Leiden behaftetes Schicksal.

Nach 56 Jahren kam aus der Stadt ihrer unsäglichen Schmach eine von der Initiative getragene Einladung. Acht ehemalige Häftlinge sowie eine Witwe folgten dieser humanen Geste der Verständigung. Ein schwerer Gang für die Gäste und kein einfacher Weg für die Gastgeber. Nach mehrsprachiger Begrüßung und einem gemeinsamen Essen stand Kaere Kverneland aus Norwegen als ältester Gast auf und bedankte sich humorvoll für das "beste Essen, das er jemals in Leonberg bekam''. Somit war das Eis gebrochen in einem bunten Gemisch hilfreicher Dolmetscher und endloser Dialoge in freundschaftlicher Runde.

Am nächsten Morgen vor dem Tunneleingang wurde in der Blosenbergkirche das Buch der KZ-Toten vorgestellt. Als Riccardo Goruppi, der zusammen mit seinem Vater ins KZ geworfen wurde, den Namen seines am 20. Februar 1945 in Leonberg verstorbenen Vaters wahrnahm, war er bewegt und ergriffen, Vergangenheit lebte auf zu bitterer Gegenwart.

Der erinnerungsbeladene Gang auf ihrem einstigen Leidensweg zum Tunnel wurde durch Willkommensgrüße in Französisch, Italienisch, Slowenisch und Norwegisch, die von Kindern auf die Straße gemalt wurden, gemildert. Ich fragte beim Entlangschreiten Silvo Vlachy nach Joze Tonzek, der 1962 als erster Häftling Leonberg besuchte. In gebrochenem Deutsch erwiderte er mir, dass jener leider vor zwei Jahren verstorben wäre. Er schilderte mir, wie dieser Kamerad zur Leitfigur und zum Lebensretter von ihm und vier weiteren jungen Landsleuten wurde. In ihrer ausweglosen Verzweiflung hätten, wie er, viele resignierend beschlossen, gegen den Elektrozaun zu springen, um ihrem Hunger, ihrer Qual ein Ende zu setzen. Doch Joze Tonzek sprach ihnen Mut zu und ermahnte sie fortwährend durchzuhalten, um die immer wahrscheinlicher werdende Befreiung noch zu erleben.

Beim Wahrnehmen des Tunnelportals, einer Schwelle der Ergriffenheit, des Schauderns vor diesem steinernen Moloch - Stille. Kein ohrenbetäubendes Dröhnen der Presseautomaten, keine gebrüllten Kommandos, kein Gestank. Aus dem gespenstischen Dunkel der Tiefe melodischer Gesang, überwältigende sphärische Klänge zweier Frauenstimmen, Höhen und Tiefen in einer lebendig gewordenen Vergangenheit. Gäste wie Gastgeber standen stumm am symbolträchtigen Portal, ergriffen von diesem bewegenden Moment. Der damals 16-jährige Häftling Albert Montal schritt andächtig diesen Klängen entgegen, ihm folgte Svagelj Rado, beide wiederholten dieses Hineinschreiten mit Enkeltochter und Ehefrau. Es war eine Szenerie überwältigender Augenblicke, die das Leben schrieb.

Bei Gesprächen in privater Runde erzählte Riccardo Goruppi vom Martyrium seiner abenteuerlichen Odyssee nach der Befreiung mit Entbehrung, Verhaftung, Flucht und der Heimkehr zur Mutter ohne den Vater in das damals zweigeteilte Triest.

Dabei erfuhren wir auch, dass er jährlich, seit über 30 Jahren, das Grab seines Vaters auf dem alten Friedhof in der Seestraße besuchte. Beim Austausch von Adressen brachten wir in Erfahrung, dass er am 14. Januar 2002 seinen 75. Geburtstag begehen wird. Dies war ein verpflichtender Anlass, ihm aus Leonberg einen Karten- und Weingruß zu senden.

Am 14. Januar kam aus Triest ein Anruf seiner Frau, die etwas Deutsch spricht. Eine überglückliche Stimme teilte mit, dass 56 Jahre zwischen Leonberg und den Opfern nur Kälte herrschte, jetzt wissen sie, in Leonberg auch gute Freunde zu haben. Diese freundschaftlichen Kontakte werden durch Besuche und gemeinsame Urlaubstage in den Sextner Dolomiten, an der Grenze beider Sprachen, in verbindender Freundschaft erweitert.

Durch sechs informative Schautafeln ist dieser dunkle Fleck der Vergangenheit unserer Stadt inzwischen nachvollziehbar als "Weg der Erinnerung'' dokumentiert. Keine Übereinstimmung gab es für den Standort einer Tafel. Neben lautstarkem Protest eines Nachbarn gab es auch verneinende Stimmen im Kirchengemeinderat.


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