Von dir wird erwartet, dass du das überlebst

Leonberger Kreiszeitung vom 21.10.2011

Selbst 99 Juden und ein Zigeuner, machen noch keinen guten Neutitscheiner", diesen bösen, menschenverachtenden Spruch aus ihrer Kindheit nahe des mährischen Städtchens Neutitschein ist Helene Kessler auch nach mehr als 80 Jahren noch gut im Gedächtnis. Er war ein düsterer Vorbote für all das Grauen, das die Nazis ihr und ihrer Familie angetan haben. Fünf Jahrzehnte hat es gedauert, bis Lene Kessler zum ersten Mal ihren Leidensweg anderen Menschen geschildert hat und noch mehr Zeit ist vergangen, bis sie nun ihren Mitbürgern in Warmbronn eröffnete, welches Leid sie erdulden musste.

Am 2. Dezember 1921 in Kunewald/Mähren (in der heutigen Tschechischen Republik) geboren, war Helene die älteste Tochter von Erwin und Emmy Scheurer. "Meine Eltern und Voreltern waren mährische Juden und seit mehr als 200 Jahren hier ansässig", erzählt die Warmbronnerin. Kurz nachdem 1925 Bruder Otto Willy geboren wurde, zog die Familie nach Mährisch-Ostrau (heute Ostrava).

"Wahrscheinlich, damit wir Kinder eine bessere Schule besuchen können", mutmaßt Lene Kessler. Der Vater handelte hier mit Gurken, Senf und Sauerkraut. Nach der Grundschule besuchte Lene Kessler das Mädchenreformgymnasium in Ostrau, wo ebenfalls in deutsch unterrichtet wurde. Mit der Zerschlagung der Tschechoslowakei - aus den Resten des Staates wurde das "Protektorat Böhmen und Mähren" errichtet - und dem Einmarsch der deutschen Truppen begann die systematische Entrechtung und Verfolgung der Juden. Lene Kessler musste 1939 die Schule verlassen. Die Familie zog nach Brünn, die Mutter musste in Ostrau das Geschäft übergeben, es wurde arisiert.

"Juden war es verboten, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen, wir hatten abends Ausgehverbot, die Kinder durften nicht mehr zur Schule gehen", erinnert sich Lene Kessler. Die jüdische Gemeinde richtete eine eigene Schule ein und hier besuchte auch sie einen Kurs für Kinderpflegerinnen. Im Sommer 1941 verbot die Gestapo die Schule, in der die damals 19-Jährige ihren späteren Mann kennen lernte. Für Jungen gab es Kurse für Tischler, Schlosser und Elektriker. Ernst Kessler, genannt Zachi, war Elektromechaniker und unterrichtete hier.

"Als die Transporte anstanden, habe ich Zachi einen Heiratsantrag gemacht und das hat mein Leben gerettet", ist sich Lene Kessler im Rückblick sicher. "Am Vormittag des 11. November 1941 haben wir geheiratet, am Nachmittag mussten wir uns für die Transporte registrieren lassen", weiß Lene Kessler noch ganz genau.

"An meinem 20. Geburtstag wurden meine Eltern und mein Bruder deportiert - es war der erste Transport nach Theresienstadt," erinnert sich Lene Kessler. Weil Ehemann Ernst zu der Technikergruppe gehörte, die für die Organisation der Transporte zuständig war, bleib das junge Paar verschont. Doch am 4. April 1942 mussten sich auch die Kesslers am Sammelplatz, einer Schule, einfinden. Am 8. April kam ihr Zug in Theresienstadt an. Hier traf Lene Kessler noch einmal ihre Eltern wieder. Doch schon am 26. April 1942 wurden diese und ihr Bruder nach Warschau deportiert. "Keiner von ihnen hat den Sommer 1942 überlebt", ist sich Kessler sicher.

Anfangs waren Männer und Frauen in Theresienstadt noch getrennt kaserniert. "Wir hungerten, es fehlte an allem, die hygienischen Zustände waren schlimm, doch wir Frauen hatten zum Glück Arbeit in der Küche", erzählt Lene Kessler. Als Krankenpflegerin wurde sie der Kinder-Krankenstation zugeteilt und durch Zufall durfte sie mit Ehemann Zachi zusammenwohnen. "Wir waren jung, gesund und wir arrangierten uns irgendwie in den Verhältnissen und hofften sie würden bald enden", sagt Lene Kessler heute. "In Theresienstadt war man noch irgendwie Mensch."

Im September 1944 wurde ein Transport mit 5000 Männern zusammengestellt, zur Arbeit im Osten, hieß es. Weil Zachi mit dabei war, meldete sich Lene Kessler wie 500 weitere Frauen freiwillig, um für den Trupp zu kochen. Doch es ging nach Auschwitz. "Ich hatte bis dahin nichts von solchen Zuständen, zumal von Gaskammern gewusst", sagt sie. Nach der Selektion auf der Rampe - "ich gehörte zu den Glücklichen , die noch eine Weile zum Leben bestimmt waren" - erlebte sie zum ersten Mal die Ungeheuerlichkeit der Vernichtungslager. Als eine Frau einer Lagerinsassin eine Konserve über den Stacheldrahtzaun zuwarf und diese sich näherte, brüllten Wachposten "Knall sie nieder, die Judensau!". Der Bewacher habe die Pistole gezogen und geschossen. "Ein Lausbub, ein Schnösel, ein Dreckskerl!", bricht es da aus der sonst so gefassten Frau heraus.

Alles in Auschwitz sei ein einziger Prozess der Erniedrigung gewesen, der den körperlichen Verfall beschleunigte. "Es war ein gezielter Angriff auf das Selbstwertgefühl. Wer nicht mehr stehen konnte, war erledigt," erinnert sich die 89-Jährige. Zehn Tage dauerte das Martyrium in Auschwitz. Dann verlor sie auch Zachi. Am 10. Oktober wurden 2000 Frauen ins Lager Schlesiersee nördlich von Glogau gebracht, um Panzergräben zum Schutz vor der Roten Armee zu schaufeln. Nur mit Holzpantoffeln, Sommerkleid und Mantel bekleidet zog sich Lene Kessler schwere Erfrierungen an den Füßen zu. Zwei Monate verbrachte sie unter menschenunwürdigen Zuständen auf der "Marodenstube". Als Verbandszeug musste Margarine-Papier und das Futter des Mantels herhalten. Am 21. Januar begann der "Todesmarsch" des Lagers - ein Zug verzweifelter Menschen quälte sich im tiefsten Winter über die Landstraßen. "Ich war soweit, mich unter eines der Fahrzeuge der sich zurückziehenden Wehrmacht zu werfen. Doch dann sagte ich mir, von dir wird erwartet, dass du das überlebst", erzählt Lene Kessler.

"Ich wagte die Flucht und ließ mich in den verschneiten Straßengraben fallen und fand den Eingang in einen Hauskeller, wo ich mich in der Toilette einsperrte." Von da an begann eine wahre Odyssee. Viele Menschen haben Lene Kessler geholfen. Mit dem Mut der Verzweifelten hat sie sich als Deutsche auf der Flucht ausgegeben. "Man durfte keine Hemmungen beim Lügen haben." Über Cottbus und Dresden hat sie sich nach Prag durchgeschlagen, hat in der böhmischen Provinz Kartoffeln für die deutsche Wehrmacht geschält. Hier erlebte sie das Kriegsende. Im Juni 1945 gab es ein Wiedersehen mit Ernst Kessler. Er hatte Auschwitz überlebt und die Kriegwirren hatten ihn bis nach Rumänien verschlagen, von wo er zwei Eheringe mitbrachte.

Nach dem Krieg bauten sich die Kesslers ein neues Leben auf. Zachi studierte Physik und promovierte. 1947 und 1952 wurden die Töchter Jitka und Katharina geboren, die heute mit ihren Familien in England leben. Nach der Niederschlagung des "Prager Frühlings" emigrierte die Familie 1968 nach Deutschland. Hier hat Ernst Kessler schnell eine Anstellung an der Universität Stuttgart bekommen, Ehefrau Lene eine im Katharinen-Hospital. 1973 ist die Familie nach Warmbronn gezogen, wo Lene Kessler heute noch wohnt.

Zum ersten Mal hat die 89-Jährige über ihren Leidensweg Mitte der Neunziger Jahre für die Shoah Foundation des US-amerikanischen Regisseurs Steven Spielberg berichtet, die Berichte von Überlebenden des Holocaust auf Video aufgenommen hat. "Zachi saß daneben und hat nur hie und da genickt. Er hat nie darüber gesprochen, was er mitgemacht hat, nur nachts, wenn er im Schlaf jammerte, wusste ich, was ihn quält." Ihr Mann ist 2005 gestorben.

"Die Menschen vergessen, deshalb musste ich Zeugnis ablegen", begründet die Überlebende, warum sie jetzt auch der Leonberger KZ-Gedenkstätteninitiative ihren Leidensweg geschildert hat. Er ist in dem Bändchen "Wie ich überlebte. Ein Rückblick nach fast siebzig Jahren." zusammengefasst und kann unter der Telefonnnummer 07152/41589 bezogen werden.


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