Wenn Schicksale ein lebendiges Gesicht bekommen
von Petra Mostbacher-Dix
Stuttgarter Zeitung, 25. Juli 2003
Die KZ-Gedenkstätteninitiative Leonberg organisiert eine Begegnung von Schülern und ehemaligen Deportierten in Frankreich
CHARMES/LEONBERG. Eine Begegnung mit Deutschlands dunkler Vergangenheit ist nicht einfach. Der Französisch-Leistungskurs des Albert-Schweitzer-Gymnasiums hat es gewagt und in Frankreich einstige Insassen des Leonberger Konzentrationslagers getroffen.
Welche Worte wählen angesichts der Schicksale, die unaussprechlich sind? Wie sich jemandem nähern, dem mannigfaches Unrecht geschehen ist? Jemandem, der in einem Konzentrationslager der eigenen Stadt inhaftiert war? Vor diesen Fragen standen die Schülerinnen und Schüler, als sie auf Initiative des Vorsitzenden der KZ-Gedenkstätteninitiative Eberhard Röhm in Charmes sur Moselle und Senones ehemaligen Leonberger KZ-Häftlingen begegneten. "Wir sind mit gemischten Gefühlen hingefahren", sagt Studienrätin Gerda Mendler, die den Leistungskurs der Abiturientenklasse unterrichtet und die Klassenfahrt begleitete. "Wir konnten nicht wissen, wie beide Seiten aufeinander reagieren würden."
Doch die Befürchtungen trafen nicht ein. Den Zwölftklässlern wurde ein herzlicher Empfang bereitet. So gab es nach einem Besuch der örtlichen Schule, wo sich Lehrer und Schüler über ihre Beschäftigung mit der Zeit der Okkupation der Deutschen im Zweiten Weltkrieg austauschten, für die deutschen Gäste einen offiziellen Festakt im Rathaus des Ortes. Dort trafen die Gymnasiasten erstmals neben Bürgermeister Gilbert Claudel und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auf Michel Didier, Albert Montal, Michel Fouchecourt und Claude Brignon aus Senones, überlebende KZ-Häftlinge des einstigen Leonberger Lagers.
"Albert Montal, Vorsitzender der Deportierten von Charmes, besuchte uns schon in Leonberg und hat nun die Einladung mit seiner Frau organisiert", so Eberhard Röhm, der von Seiten der KZ-Gedenkstätteninitiative die Schulgruppe zusammen mit Ingrid Bauz und Volger Kucher begleitete. Röhm: "Anwesend waren alle Deportierten, die wir kennen, nur Alfred Favreau musste absagen. Die anderen sind wegen des Treffens teilweise von weit her nach Charmes gekommen." Die Menschen von Charmes seien der deutschen Delegation mit großer Offenheit und Gastfreundschaft begegnet, erzählt Leistungskurslerin Nadine Gerteis. Das bestätigt auch ihre Mitschülerin Elisa Sautter. "Man ist am Anfang unsicher, auch wegen der Sprache. Aber wir mussten gar nicht viel fragen, sie haben einfach erzählt." Und das, obwohl es keine Familie in dem 4800-Seelen-Ort gibt, die nicht ein Opfer zu beklagen hätte.
In Charmes wurden am 5. September 1944 von den Nazis alle 150 Männer auf Lastwagen verladen und nach Deutschland deportiert. Nur 50 davon kehrten wieder zurück. Die meisten waren in Leonberg, wo sie unter anderem als billige Arbeitskräfte im alten Engelbergtunnel Tragflächen für einen Düsenjäger der Firma Messerschmidt fertigen mussten. "In Charmes hielten sich zu diesem Zeitpunkt viele Mitglieder der Résistance auf", erklärt die Schülerin Ines Horn die Zusammenhänge. "Sie wollten für die bereits vorrückende Alliiertenoffensive einen Brückenkopf vor der Zerstörung bewahren." Was nicht gelang, die Frauen und Kinder des Dorfes mussten nach dem Abtransport ihrer Männer zusehen, wie ihr Dorf angezündet und fast völlig zerstört wurde.
Das sind Erfahrungen und Überlieferungen, über die nicht einfach zu sprechen ist. "Manche haben sehr emotional erzählt, die Tränen unterdrückt", so Horn. "Andere haben sogar Humorvolles berichtet." Das sind die Einzelschicksale, die für die Schüler nun ein lebendiges Gesicht bekamen. "Mir ging es mitunter so, dass sich ich mich für meine Stadt geschämt habe", meint Nina Müller. Im Rathaus von Charmes haben die Leonberger Schüler einen Kranz niedergelegt und in verteilten Rollen das Gedicht "Liberté", mit dem Paul Eluard 1942 feinfühlig die Freiheit besang, vorgetragen. Das dürfte im Sinne von Albert Montal, dem Sprecher der Deportierten, gewesen sein, der zur Begrüßung den Leonbergern gesagt hatte: "Sie haben verstanden, dass die Erinnerung an diese schmerzlichen Jahre unsere beiden Länder vor dem Vergessen schützen soll."